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voice recorder, am 29.1. 2003 um 15:28:26 Uhr
Schulhistorie

Wir Sind Luther Blissett
Interview von Loredana Lipperini aus La Repubblica vom 06.03.1999.


Im Ganzen sind es vier Autoren, die das »Luther Blissett Project« von Anfang an gestalten. Sie haben eingewilligt,
unserer Zeitung ihre Namen preiszugeben, die für sie jedoch nicht weiter von Bedeutung sind. Für die Presse heißen
sie Federico Guglielmi, Luca Di Meo, Giovanni Cattabriga und Fabrizio P. Belletati. Die vier sind zwischen 26 und 35
Jahre alt und leben in Bologna. Sie arbeiten im Dienstleistungsbereich und im Kulturgewerbe, einer verdingt sich sogar
als »Rausschmeißer« in städtischen sozialen Einrichtungen. Doch genug der biographischen Details.
»Unsere Namen«, so sagen sie in einem der Interviews, die sie ausschließlich gemeinsam geben, »sind nicht wichtig,
und noch weniger sind es unsere privaten Biographien. Wir bilden zwar das Team, das Q geschrieben hat, aber
gleichzeitig machen wir weniger als 0,04% des »Luther Blisset Projects« aus


Warum also haben Sie eingewilligt, aus der Anonymität hervorzutreten?

»Gewiß Nicht, um uns im Rampenlicht zu sonnen und es diesen jungen Schreiberlingen gleichzutun, die sich derzeit in
Talkshows oder Literaturzirkeln produzieren. Das wäre ein wenig ruhmreiches Ende für Unsereins, und die anderen
Blissetts täten gut daran, uns wie lahmende Pferde zu erschießen. Wir wollen zeigen, dass wir ein Team sind, nicht ein
einzelner Autor. Hinter Blissett, ebenso wie hinter Q, verbirgt sich keine illustre Persönlichkeit, kein geheimnisvoller
Gelehrter und noch viel weniger nur wir allein. Die Zukunft des kreativen Schreibens liegt im Networking.«


Dennoch beginnen Sie erst einmal mit der Vergangenheit. Warum haben Sie sich dazu
entschlossen, einen historischen Roman zu schreiben, und warum spielt er ausgerechnet im
16. Jahrhundert?

»Q ist ein Werk, in dem sich die verschiedensten Gattungen mischen: Es ist Krimi, Roman Noir, Spy Story,
Abenteuerroman und letztendlich auch historischer Roman. Wir haben uns an eine ehrgeizige, chorartige Erzählweise
herangewagt, bei der verschiedene narrative und inhaltliche Handlungsebenen ineinander verflochten sind. Genau das
gefällt uns und genau das muß Literatur leisten: Geschichten erzählen und Mythen schaffen. Wir können diese so
genannten Erzählungen nicht mehr ertragen, die auf einer einzigen Idee aufgebaut sind - und oft nicht einmal das -, die
sich auf Stilübungen reduzieren, nichts als pseudo-autobiographisches Generationsblabla. Bestenfalls 100 Seiten lang.
Die minimalistische Welle wird bald vorbei sein, muß vorbei sein. Besser noch: Sie ist bereits vorbei. Vergessen. Was
das 16. Jahrhundert betrifft, so haben wir es gewählt, weil damals die Moderne ihren Anfang nahm und mit ihr all das,
was heute im Begriff ist, sich zu zersetzen: Europa, die Massenkommunikation, der Polizeiapparat, das Finanzkapital,
der Staat. Aber auch aus dem folgenden Grund, den schon der Buchhändler Pietro Perna in dem Roman anführt:
»Huren, Geschäfte, verbotene Bücher und päpstliche Intrigen. Was sonst verleiht dem Leben Würze


Es gab bestimmt einen entscheidenden Initialfunken?

»Mehr als einen: die Idee kam uns ungefähr Ende 1995, als wir die päpstliche Enzyklika Ut Unum Sint, die
Forschungsarbeiten von Raoul Vaneigem über die Bewegung der Freidenker und Ein amerikanischer Thriller von
James Ellroy lasen. Man könnte Q als den entsprechenden Cocktail daraus bezeichnen. Sechs Monate haben wir
gebraucht, um das nötige historiographische Material zusammenzutragen, dann noch einmal sechs Monate, um die
Handlung zu skizzieren, und schließlich mehr als zwei Jahre für das eigentliche Schreiben


Und wie schreibt man mit acht Händen?

»Das ist wie bei einer »Jazz Combo«: gemeinsames Grundschema, Kollektivimprovisationen und einzelne Soli. Man
könnte es jedoch auch mit der Konzeption eines Videospiels vergleichen: Hierbei werden immer mindestens zwanzig
Personen als Autoren genannt. Und wo liegt der Unterschied zwischen einem Roman und einer interaktiven Software?
Im Übrigen sagt Blissett seit Jahren, dass Schreiben und kreatives Schaffen ein vollkommen gemeinschaftlicher
Prozess sei; Ideen kennen kein Eigentum, das Genie existiert nicht. Es geht lediglich um eine von Grund auf neue
Zusammenstellung


In der Tat erscheint das Buch hier in Italien mit einer bisher einmaligen Klausel: Es darf, als
Ganzes oder in Teilen, verwertet werden - jedoch nur von Einzelpersonen, nicht aber von
anderen Verlagen.

»Ja, zum ersten Mal in der Verlagsgeschichte haben wir innerhalb eines Großunternehmens ein »Anticopyright«
durchgesetzt, und über diesen Präzedenzfall sind wir sehr glücklich


Zudem ist Q auch die theologische Summa des »Luther Blissett Projects« - und das sicherlich
nicht nur, weil auf Seite 69 der italienischen Ausgabe das Wort Luther auf Häuserwände
geschrieben wird - hier mit Bezug auf den Reformator -, sondern weil man bei genauem
Hinsehen alle Ihre Themen wiederfindet: multiple Identität (in den verschiedenen Namen des
Protagonisten), Unterwanderung der Macht. Habe ich etwas vergessen?

"Uns ist es lieber, wenn unsere Leser die Querverbindungen selbst herausfinden, aber eine Sache soll hier dennoch
gesagt werden: Q ist eine Hommage an die Geschichte, die von jenen geschrieben wurde, welche im Hintergrund
stehen, eine Hommage an die fortdauernde lebende Masse ohne Namen, die die gesamte Last der Ereignisse der
Menschheit trägt. Vor einiger Zeit haben wir dieser Masse den Namen Luther Blissett gegeben, was jedoch letztlich
völlig beliebig ist."


Wo wir gerade dabei sind: Das italienische »Luther Blissett Project« endet mit dem Jahr 2000.
Warum?

»Wie sagte noch der unvergessene Cary Grant: ,Es ist besser, eine Minute zu früh zu gehen und die Leute unbefriedigt
zurückzulassen, als eine Minute zu spät und sie gelangweilt zu haben.'«





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