In der Quinta saß ich neben Alex. Alex' Eltern waren steinreiche Fabrikanten und Alex war keineswegs dumm, aber irgendeinen Schaden hatte er, ob durch Kinderlähmung oder zuwenig Sauerstoff bei der Geburt bedingt, weiß ich nicht. Zum einen war seine rechte Hand stets in einer unschönen Pfötchenhaltung erstarrt, zum anderen hatte er gelegentlich unkontrollierte motorische und verbale Ausbrüche, die mich an das Tourette-Syndrom erinnert hätten, wenn ich ein so altkluger Quintaner gewesen wäre. Irgendwann hatte Alex nach dem Unterricht ein Schulheft in seiner Bank vergessen, und da er es für die Hausaufgaben gebraucht hätte, nahm ich es an mich und beschloß, es ihm am Nachmittag vorbei zu bringen, wir wohnten nur wenige Straßen auseinander. Auf dem Heimweg packte mich die Neugier und ich schaute hinein. Was ich sah war, daß Alex auf fast jede Seite kleine Sprüche und Zeichnungen gekritzelt hatte, ein gespenstisch anmutender Konvolut aus Affirmation und Selbstverstümmelung: 'Gut gemacht, Alex'; 'Böser Alex'; 'Pfui Alex' und, immer wieder ein kleiner Grabhügel mit Kreuz, über dem 'Hier ruht Alex' stand. Das war keinen Moment komisch, sondern hinterließ selbst in dem halbwegs unschuldigen Zwölfjährigen der ich war, ein Gefühl tiefen, hilflosen Mitleids. Ich habe Alex das Heft gebracht und weder mit ihm noch irgend jemand anderem über das Heft gesprochen, doch insgeheim war ich froh, als Alex am Ende des Schuljahrs sitzenblieb und ich neben Daniel kam. (»Schaffen Sie den Kerl raus, sein Jammer zerreißt mir das Herz«)
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