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Atlanter schrieb am 23.4. 2001 um 14:10:35 Uhr über

Schamane

Der moderne Schamane
Anstatt »moderner Schamane« wäre auch der Begriff »Stadtschamane« möglich. Denn unter »Schamane« stellen sich viele ein bestimmtes abgegriffenes Klischee vor:
Der trommelnde Wilde, der im Wald lebende Nachfolger einer alten, so gut wie ausgestorbenen Naturreligion.
Esoterikträumer, die ohne jeden Kontakt zur nüchternen Wirklichkeit von Chakren, Wiedergeburten, magischen Mächten und Ufos fantasieren, haben das ihre getan, um den Eindruck im Bild des Alltagsmenschen endgültig zu veruntreuen.



All diese Bilder kleben an der Oberfläche. Dem, was ein Schamane wirklich ist, kann mit den banalen Assoziationen der New-Age-Moden nicht beigekommen werden. Hier, in diesem Text, geht es um das, was unter der Oberfläche des schnellen, assoziativen Zuordnens verborgen ist.

Der Schamane ist ein ganz bestimmter Menschentyp, den es in jeder Epoche und in jeder Kultur gegeben hat und immer noch gibt, ja immer geben wird. Ein Schamane ist, wer zum Dahintersehen berufen ist. Schamanen gibt es, um das Klischee endgültig abzutun, in Computerfirmen und Werbeagenturen, in Sportvereinen und bei Filmproduktionen, in Hochhäusern und im Internetnatürlich dort und auch sonst überall.



Allerdings leiden manche von ihnen am Leben und dem Unverständnis, auf das sie mit ihrer Klarsicht und Sensibilität stoßen, ohne zu wissen, daß sie Schamanen sind. Manche versuchen die Verständniskluft zu überbrücken und die Gesellschaft, in der sie unverstanden leben, und die mit Menschentypen wie ihnen nichts zu tun haben will, umzuformen und aufzuklären — was ihnen nicht nur nicht gelingt, sondern oft genug im Scheitern des eigenen Lebensentwurfs endet.



Klarsicht und Sensibilität sind verpönt. Denn oberflächliche Menschen spüren stets eine Gefahr, durchschaut zu werden. Wo sich Lügen auf Lügen türmenwo Lebenslügen, Beziehungslügen, Gefühlslügen, Sinnlügen und falsche Fassaden jeder Machart die Wahrheit verdecken — da kann bereits das Aufdecken eines einzelnen Details den Einsturz des ganzen mühselig errichteten Kulissengebäudes herbeiführen.

Manchmal werden Schamanen-Typen zur Aufheiterung und Auflockerung der Sinnlosigkeit und Langeweile gebraucht, als Hofnarren der modernen Unterhaltungsdiktatur. Zugleich hat von vornherein festzustehen, daß man sich ihrer rechtzeitig wieder entledigen können muß, bevor sie gar eine maßgebliche Rolle zu spielen beginnen, die alles in Gefahr bringen könnte.





Berufung
Zum Schamanen berufen sind Menschen, die Dinge sehen, die andere entweder nicht sehen können oder nicht sehen wollen.

Der Schamane ist ein Mensch, der mit der Last einer reichen Innenwelt leben muß. Der die Dinge des Alltags sehr tief empfindet, sie in sich aufnimmt und sie zu begreifen, zu durchdringen versucht. Er gibt sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden. Er versucht den »Sinn hinter dem Ganzen« zu entdecken. Er erleidet die Fragen, die ihm kommen. Eine innere Stimmeoder auch: sein Gewissenverlangt, daß er sich bestimmten Aufgaben stellen muß, die andere einfach verdrängen oder vergessen können.

Der Bereich, zu dem er gerufen wird, ist innen. Er muß das »Menschlich-Allzumenschliche« erforschen, das Dunkle, Verdrängte: Angst, Tod, Unbekanntes, Unerforschtes. Aus der Logik dieser Ausrichtung entsteht das, was die Mystiker den WEG nennen; und nur sie kennen diesen WEGkein Alltagsmensch versteht ihn, kein Alltagsmensch interessiert sich auch nur im geringsten für ihnim Gegenteil: der WEG ist ihm suspekt; er wittert dort nur Wahnsinn, Verzweiflung, Desillusionierung und Verzichten-Müssen auf alles, was ihm wertvoll ist.

Der Schamane muß den WEG auch allein gehen können; er darf nicht fragen, wieviele mitkommen. Der WEG geht in die Ödnis, in die Wüste, ins Abseits, fort von den Lichtern der Städte, fort von der Wärme der Geselligkeit, fort von den Erfolgen und Anerkennungen des produzierenden Gemeinwesens.





Beitrag
Der Schamane erfüllt eine Stellvertreter-Funktion. Er geht den Weg ganz allein, aber gerade dadurch und darin auch für die anderen Menschen mit. Er balanciert die kollektive Disharmonie nicht dadurch aus, daß er das große Ganze zu verändern oder zu beeinflussen sucht, sondern, genau umgekehrt, indem er von dem großen Gelärm der Überflüssigkeiten und der Äußerlichkeiten Abschied nimmt, konsequent Abschied nimmt und zur Wurzel, zum Ursprung, zur Quelle der Existenz geht.

Er folgt dem Fluß nicht, wie die anderen, bergab zur Mündung, sondern macht sich bergauf auf die Suche nach dem Anfang. Und der Anfang der Existenz ist nicht irgendwo da draußen, sondern im Selbst. Die Antworten auf die großen Fragen des Lebens sind nicht da draußen zu finden, auch nicht im Gewirr des Zwischen- und Mitmenschlichen, sondern innen.

Der Schamane verspürt den Ruf des Inneren, und dieser fordert ihn auf, sich selbst zu erkennen. Bevor er nicht hier die Lösung gefunden hat, kann er keine Ruhe mehr finden. Er muß durch sich selbst hindurchgehen. So, wie andere im Außen Abenteuer und Bewährung suchen, so begibt er sich auf die Reise ins eigene Innere, erforscht und navigiert im Unbekannten der Seele, besteht hier Abenteuer auf Abenteuer.

Damit tut er das, was die Masse der anderen vernachlässigt, und heilt so das allgemeine Defizit an Selbsterkenntnis und Verstehen. Wo so viele sich ablenken und verirren, tut es not, daß wenigstens einer sich mit sich selbst konfrontiert. Und vielleicht kommen einige und fragen ihn nach seinen Erfahrungen, oder schätzen irgendeinen besonderen Beigeschmack an seinem Verhalten oder an etwas, das er hervorbringt oder tut, und fühlen sich durch das, was ihnen unerklärlich ist und ihre Verwunderung erregt, im Herzen berührt wie durch eine alte, tiefe Kindheitserinnerung.


Das ist sein Beitrag für das Gemeinwesenein wichtiger, aber oft genug nicht nur unterschätzter, sondern sogar verhaßter Beitrag. Denn es kann mehr von dem Allzu-Menschlichen in uns allen zum Vorschein kommen, als jedem lieb ist, der das täglich verdrängt und verleugnet. Wer kann sagen, er sei frei von diesem Lügen, und frei von der Angst, seine Lügen würden entlarvt?

Der Beitrag des Schamanen ist ungeliebt, aber notwendig. Er ereignet sich nicht im Bereich des Sichtbaren, Zähl- und Meßbaren, sondern ist schwer zu ortendas Gemiedene, Ausgeblendete ist sein Revier: der Blinde Fleck unseres Selbstbildes. Dort wirkt er am Ausbalancieren der generellen Disharmonie miter bewirkt Heilung im Bereich der Werte, der Lebens-Ausrichtung, der Wirklichkeitsnähe, der Authentizität, der Ehrlichkeit.

Man darf das nicht verwechseln mit einer willentlichen, zielgerichteten Entscheidung moralischer Natur: Als fühle sich der Schamane zu hehren Taten berufen und versuchte aus reiner Güte seinen Mitmenschen »zu helfen«. Das ist die Kitsch-Sicht einer Heuchelmoral, wie sie heute immer noch grassiert und von den Kirchen in Anspruch genommen wird.

Das Ausbalancieren entsteht als unmittelbarer Ausdruck der Seinsart des Schamanen, beinahe als ein Reflex. Genaugenommen handelt es sich um ein Energiephänomen und ein katalytisches Ereignis, wie bei einer chemischen Reaktion.

Bekannt ist das von den sogenannten »Freudschen Fehlleistungen«: Stellen Sie sich etwa eine Ansammlung von Menschen vor, die sich alle bemühen, ein bestimmtes künstliches und unnatürliches Verhalten an den Tag zu legensagen wir: »nicht unhöflich zu erscheinen«, »keine falsche Bewegung zu machen«, »allgemein verpönte Empfindungen wie Neid, Lüsternheit, Eifersucht etc. nicht zu zeigen«. Wo Durchschnittscharaktere wenig Probleme damit haben, sich nach außen zu verfälschen und die »dunkle Seite« zu unterdrücken, indem sie das Geforderte verkörpern, überkommt es einen Schamanen-Charaktertyp wie ein unheimlicher Drang, genau das Unerwünschte, »Unmögliche«, »Schreckliche« zu tun. Und selbst wenn er es merkt und sich ebenfalls um Selbstkontrolle bemüht, rudert plötzlich sein Arm ganz von allein seitwärts und fegt das Tablett mit den Champagnergläsern vom Tisch, natürlich geradewegs auf das Dékolleté der Frau Consul, oder über die edle Krawatte des berühmten Architekten, der einer Gruppe hingebungsvoll lauschender junger Damen seine neuesten Inspirationen vorträgt.

Der Schamane muß das tun, es ist wie ein Fluchaber er ist so und muß mit dieser »Gabe« leben, das, was die anderen verdrängen, zu erspüren und zum harmonischen Ausgleich zu bringenharmonisch sicher nicht aus Sicht einer verlogenen und heuchlerischen Gesellschaft, sondern harmonisch in Bezug auf einen größeren (und wichtigeren) Zusammenhang, eine globalere Wahrheit.

Hofnarren haben früher eine ganz ähnliche Rolle mit Akzeptanz der damaligen Gesellschaftshierarchie gespielt, damals wußte man noch mehr um die heilende Wirkung solcher Zusammenhänge.

Weltanschauliche Organisationen jeder Art sehen im Schamanen eine Bedrohung, die an den Grundpfeilern ihrer eigenen Wertvorstellungen nagt. Denn gerade durch seine Berufung, die er als innere Gewissenspflicht mit kraftvoller Unbedingtheit wahrnimmt, bedeutet er eine bedrohliche Konkurenz zu jedem als allein-gültig vorgebrachten, institutionalisierten Heilsanspruch. Der Schamane ist immer der natürliche Gegenspieler des Pfarrers, des Sozialdienstleisters, des Politikers, des Sektenchefs gewesen, in seinem auf Unabhängigkeit und Freiheit gerichteten Streben ist er Gift für alle, die manipulieren und Einfluß gewinnen wollen, die einer breiten Masse eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit einimpfen und als unzweifelbar richtig suggerieren wollen.





Der WEG des Schamanen
Auf seiner Suche nach Wahrheit muß der Schamane oft einen langen, schweren, entbehrungsreichen Weg gehen, bis er eine Antwort erhält, die ihm zeigt, worin genau seine Aufgabe besteht und wo und wie er sie auszuführen hat.

Eine der Prüfungen des WEGES besteht darin, über die Grenzen des eigenen Verstandes, des eigenen Ichs hinauszugehen und sich einem größeren Ganzen anzuvertrauen. Der Schamane verifiziert, daß das, was wirklich Wert hat und was überhaupt im Leben wesentlich ist, eben nicht aus dem Denken des Ich entspringen kann, sondern gegeben wird, sobald einer die Aussichtslosigkeit seines egozentrischen Denkens und Handelns erkannt hat. Beim Schürfen in den unteren Tiefen seines Selbst gibt sich der Schamane nicht einer selbstbezogenen, irrealen Verinnerlichung hin, sondern findet das Gold, das auch im wahren Leben als Gold gilter findet die tiefere Wahrheit hinter dem Sichtbaren, die allein die echte Wahrheit ist.




Schamanen im Westen
In der keltischen Kultur, die Europa vor den Römern regierte, stellten druidische Schamanen einen wesentlichen Bestandteil der ganzheitlichen Lebensweise dar.

Auch im Mittelalter gab es echte, inspirierte Suchende, welche die religiöse Tradition des Christentums bedeutend bereicherten und erneuerten. Es gab die Troubadoure und Tempelritter, die Freimaurer, Alchemisten, Rosenkreuzer und andere. Im Innersten frei und unabhängig von der herrschenden normierten Weltsicht, verließen viele von ihnen ihr Haus und ihre Heimat und zogen als Pilger, als »Narren Gottes« arm und verspottet umher, stets auf der Suche nach dem wahren Heim, dem echten inneren Einssein mit Wahrheit.

So ist der wahre Schamane der, dem der Ruf der inneren Stimme wesentlicher ist als alles andere. Er verliert sich nicht in den Banalitäten der Alltagswelt, vertreibt sich nicht mit fader, bedeutungsloser Unterhaltung die Zeit. Sein Herz brennt vor Sehnsucht nach dem Sinn, und alles andere ist ihm nur ein schaler Traum.



In der neuen Zeit des angeblich »aufgeklärten« Rationalismus nahmen Schamanen oft die Rolle von Künstlern ein, weil sie nicht anders von der modernen Gesellschaft akzeptiert wurden: Sie wurden Dichter, Schriftsteller oder Musiker, auch Tänzer, Filmregisseure, Bildhauer, Maler. Solche Menschen tauchten hinab in tiefere Bereiche der menschlichen Seele und gestalteten das, was sie dort erfahren hatten, zu Ausdrucksformen, die dem Alltagsmenschen wenigstens auf dem Wege der Kunstrezeption wahrnehmbar wurden.

Heute kommen manche tief sensible Menschen, die früher vielleicht ins Kloster gegangen wären, als Fotografen, Kinotechniker, Programmierer oder Bibliothekare unter, wo sie zwar ihre Empfindsamkeit geschützt finden, dafür aber ihre Gefühlsimpulse und kreativen Träume nicht entfalten und frei austragen können.





Heute
Echte Schamanen leben hier und jetzt unter uns, und sie sind keine Spinner oder Sonderlingedas sollte klar genug geworden sein. Unsere Zeit braucht den Menschentyp des Schamanen wie selten zuvor. Und zwar nicht in der verkappten, ängstlich versteckten, sondern in der reinrassigen Form.

Auch das Wissen jenes WEGES, der zur Erkenntnis des Inneren führt, ist besser erforscht dann je. Und es ist — entstaubt und von jeder abstrusen Spekulation befreitin einer klaren, zeitgemäßen Form erreichbar: als Wissenschaft der Bewußtheit. Für die, die sichnicht aus Neugier oder intellektueller Reizbedürftigkeit — dazu berufen fühlen, gibt es hier, auf diesen Seiten, erste Anhaltspunkte.

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