Der Sachsenspiegel - von Eike von Repgow
Erst mit dem Übergang von mündlich vermittelter Dichtung zu schriftlich fixierter
Literatur kann man überhaupt einen Verantwortlichen für das Geschriebene
ausdeuten. Dabei verstehen sich die spätmittelalterlichen Autoren nicht als
Urheber, als kreative »Hervorbringende« eines Werkes. Sie fühlen sich eher als
Sammler und Überlieferer, als Ohr und Mund der Tradition.
Dies gilt auch für den Verfasser eines der ältesten deutschen Rechtsbücher, Eike
von Repgow. Spärlichen urkundlichen Erwähnungen kann man entnehmen, dass er
um 1180 geboren wurde und, da er nach 1233 in keinem Schriftstück mehr
genannt wird, in den Jahren nach 1233 gestorben sein muss. Er entstammte
einem edelfreien Geschlecht, das seinen Namen nach dem Dorf Reppichau bei
Dessau führte. Zwischen 1209 und 1233 benennen die Urkunden Eike, häufig im
Gefolge des Grafen Heinrich von Anhalt, als Zeuge in Rechtsgeschäften. Sicheren
Aufschluss über Stand und Beruf, Erziehung und Ausbildung gewähren diese
kargen Informationen jedoch nicht. Allein das Werk lässt auf seinen Verfasser
schließen: Die Beschaffenheit des »Sachsenspiegels« deutet darauf hin, dass Eike
eine für seine Zeit überdurchschnittliche, weltliche Bildung besessen haben muss.
Er erweist sich als politisch wohl informiert, in der Rechtspraxis erfahren und
besitzt gute Latein und Bibelkenntnisse. Darüber hinaus jedoch bleibt seine Vita
Objekt der Spekulation.
Was aber hat es mit dem »Sachsenspiegel« auf sich, diesem wohl bekanntesten
und wirkungsreichsten, Eikes Nachruhm begründenden Rechtsbuch? Welches Ziel
verfolgte der Verfasser mit der langwierigen Niederschrift des zunächst auf Latein
erschienenen und erst später mühsam ins Deutsche übersetzten Werkes?
Der Repgower gibt die Antwort in einer seiner Vorreden: Er will das ererbte, durch
Tradition in seiner Vortrefflichkeit ausgewiesene Recht sammeln, um es zu
bewahren. Sein Buch soll das Medium dieser gerechten Lehre sein, soll das Rechte
jenseits von individuellem Nutzen oder Nachteil aufzeichnen, soll
Berufungsmöglichkeit für Mächtige und Bedürftige bieten.
Durch die Verschriftlichung aber kann der Rechtsbestand von »modernen«,
»verderblichen« Einflüssen freigehalten werden. Was Eike hier - als Privatmann
ohne offiziellen Auftrag - unternimmt, ist der ehrgeizige Versuch, das über einen
langen Zeitraum gewachsene Gewohnheitsrecht des sächsischen Raumes zur
verbindlichen Quelle der Rechtspraxis zu machen: Wie den Frauen durch einen
Spiegel ihr Antlitz bekannt würde, so solle durch den »Spegel der Sassen« das
Recht der Sachsen allgemein publik werden.
In einer der vier dem Werk beigegebenen Vorreden entwickelte Eike seine
Vorstellung vom Ursprung des Rechts: »Got is selve recht, dar umme is em recht
lef.« Als erster Autor weltlicher, mittelalterlicher Rechtsliteratur gibt Eike damit
eine metaphysische Begründung des menschlichen Gesetzeswerkes: Gott ist die
Quelle allen Rechts. Das geistliche Recht wird durch die Kirche und ihre
Institutionen verkörpert, es regiert die Seele, der Arm des weltlichen Rechts ist
der Kaiser, seine Autorität regiert den Körper. Diese Zweiteilung wird zum
Grundsatz des gesamten Sachsenspiegels und zieht sich durch alle seine Teile
hindurch. Ihren prominentesten Ausdruck findet die prinzipielle Trennung von
geistlichem und weltlichem Einfluss in Eikes Stellungnahme zur
Auseinandersetzung von regnum und sacerdotium. Die Machtrivalitäten zwischen
Kaiser und Papst, die seit dem Beginn des Investiturstreites schwelten, hatten zur
Zeit der Abfassung des Sachsenspiegels einen ihrer vielen Höhepunkte erreicht:
Der Papst versuchte gänzlich neue Herrschaftsrechte zu realisieren, indem er ein
Absetzungsrecht gegenüber dem Kaiser behauptete. Friedrich II. von
Hohenstaufen auf der anderen Seite fand sich in keiner Weise bereit, den
hegemonialen Anspruch des Nachfolgers Petri anzuerkennen. Er konnte sich dabei
auf Überlieferungen der Kirchenväter stützen, denen beide, Papst und Kaiser, als
von Gott eingesetzt galten. So aber mussten auch die je voneinander
abgegrenzten Herrschaftsbereiche als unanfechtbar und unabhängig angesehen
werden.
Eikes oben skizzierte Rechtsauffassung unterstützt genau diese Auffassung. Auch
er geht davon aus, dass Papst und Kaiser unmittelbar von Gott mit den
symbolischen Schwertern ihrer Herrschaft ausgestattet worden sind - das
Vormachtstreben des Papstes konnte sich auf keinen Rechtstitel gründen.
Die Bedeutung des Sachsenspiegels für die Rechtspraxis auch nachfolgender
Jahrhunderte wird flankiert von seinem Stellenwert als historische Quelle. Sowohl
die Alltags als auch die Sozialgeschichte profitieren von der reich überlieferten
sozialen Praxis, die der Sachsenspiegel als Rechtskodex spiegelt. Die
Konfliktregelungen um 1200 sind eben nicht nur von dogmatischem Interesse. Sie
bilden zur gleichen Zeit Herrschaftsverhältnisse ab und verweisen auf
Kompetenzstreitigkeiten. In Eikes Fall informieren die Rechtssprüche implizit über
die soziale und ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung im Elbe-Saale
Gebiet, über die Lebensumstände gerade der bäuerlichen, dörflichen
Einwohnerschaft.
All das aber interessiert erst den nachgeborenen Historiker; die Dogmatik, die
Tradierung von Rechtssprüchen lässt sich von der geschichtlich gebundenen
Genese des Rechts nicht beeindrucken. So geriet der Sachsenspiegel alsbald in die
Rolle eines Prototypen, der den rechtlichen Regelungsbedarf der Menschen auf
lange Sicht abzudecken versprach. Nicht lange nach seinem Erscheinen wurde er
zur Vorlage weiterer Rechtsbücher: des »Spiegels deutscher Leute« und des
»Schwabenspiegels«. Er existiert heute in zahlreichen Handschriften, die ihren
Weg nicht nur bis an den Niederrhein fanden, sondern als Handgepäck deutscher
Siedler sogar bis nach Ostmitteleuropa gelangten. Einzelne Bestimmungen wurden
in nord und ostdeutsche Stadtrechte übernommen, als subsidiäre Rechtsquelle
blieb der Sachsenspiegel in Sachsen bis 1863, in Anhalt und Thüringen bis 1900 in
Kraft.
Die Privatinitiative eines Rechtskundigen des 13. Jahrhunderts wurde durch den
praktischen Gebrauch seines Buches belohnt. Eike von Repgow wollte den Schatz
des Wissens teilen, um ihn zu mehren - die Strahlkraft seines Werkes bezeugt die
Erfüllung dieses Wunsches.
Literatur:
* Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel, hrsg. von Clausdieter Schott, Zürich 1996.
* Der Sachsenspiegel in Bildern, Aus der Heidelberger Bilderhandschrift
ausgewählt und erläutert von Walter Koschorreck, Frankfurt/ Main 1976.
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