ADS, HIV, SARS. Solche und ähnliche Krankheiten verbreiten sich in letzter Zeit auf dem diesem unseren Globus, wie die Scheißhausfliegen. Doch gerade wurden von angeödeten Leserbriefen motiviert diese Strafen Gottes aus den Schlagzeilen geprügelt, bahnt sich schon die nächste Medienakatastrophe an, die tief in den Mode- und Trendsparten der Teenie-Magazine ihre Wurzeln schlägt.
Dies ist die Geschichte von einer Katharina, die ich mir gerade ausdenke, während ich diese Zeilen verfasse, die mir aber unter anderen Namen in dieser Form, wie ich sie hier beschreibe, schon häufiger begegnet ist.
"Katharina ist 12 Jahre alt. Während der Pause hält sie sich am liebsten in Gesellschaft eines kleineren, unaufälligen Grüppchens gleichartiger präpubertierender Pickelsammlungen mit etwas Mädchen dazwischen auf dem Schulhof der niederen Lehranstalt auf, und spielt mit ihnen ihr altes Spiel: Reihum klagt jeder sein Leid, und versucht damit, die Jammereien der Vorrednerin an Intensität zu überbieten. So geht das Pause für Pause für Pause, bis sie am Überzeugen ihrer besten Freundinnen von der Erbarmungswürdikeit der eigenen Situation verzweifelt und die Dramatisierung die Grenzen des Sarkastischen schon um Meilen überrollt hat. Nein - eine zu kleine Lobby für das eigene Leid ist Gift für die Karriere als gepeinigtste Kreatur des Universums.
Allerdings müssen neue Probleme her, und ein Weg, die Öffentlichkeit zu erreichen, denn wer auf der Welt soll ihr denn glauben, daß Mutter noch vor der Geburt des Vaters gestorben sei, oder daß sie vom häuslichen Goldfisch vergewaltigt wurde; und vor allem: Wie käme denn das, wenn man irgendwen in der Fußgängerzone anspricht mit den Worten: »Hi, ich bin die Katharina und ich bin ein Mädchen, das gerne ein Junge sein will, der gerne ein Mädchen sein will, deshalb trag ich Frauenklamotten, schreckliches Schicksal, nicht?«. Nach langem Überlegen entschließt sich Katharina, sich in Zukunft regelmäßig die Arme ein wenig abzuschürfen; irgendwo in der Bravo hat sie mal gelesen, daß das eine Krankheit wäre.
Diese Krankheit wird nun fröhlich in die Welt getragen, sei es im eigenen Klassenzimmer durch vermehrtes Vorzeigen der leicht zerkratzten Arme, sei es im Internet auf Postingplattformen für para-problembelastete Profilineurotiker, sogenannten »Selbsthilfe-Foren«. Hier herrscht zwar einerseits wieder der Konkurrenzkampf um die anerkannt qualitativ und quantitativ schwerwiegendsten Probleme, aber dafür gibt es auf diesen Seiten eine Mitleidspflicht: Wer auf ein rührseliges Posting, und ginge es auch nur um ein abgebrochenen Zehennagel, nicht in emotionale Beileidsbekundungen ausbricht, der wird als herzloses Schwein beschimpft und aus der Community verbannt. Zusätzlich kann sie hier ihren Sprachschatz durch moderne Anglizismen wie »cutten«, »triggern« usw. erweitern, um ihren Heulkapriolen einen fundierten Anstrich zu geben, oder sich Inspiration für neue Krankheiten zu holen. Außerdem kommt einem die Zensur zu Hilfe: Ein Posting, beispielsweise, in dem angeführt wird, daß ein nicht zu unterschätzender Anteil derer, die sich die Arme aufschneiden, dies nur tun, um damit anzugeben, wird sofort kommentarlos gelöscht, und der Verfasser gesperrt (man wird das Gefühl nicht los, daß man es mit der »Ostalgie« auch übertreiben kann).
Doch bis heute wundert sich Katharina, warum sie nie ernst genommen wird, wenn sie, nachdem sie erneut öffentlich den Pullover von den ihrer Meinung nach bis zur Unendlichkeit verschandelten Sündenböcke ihrer Mitleidssucht gerissen hat, und jedem, der sie aus Blödheit tatsächlich fragt, was mit ihr los ist, mit epischen Metaphern antwortet: »Der Engel des Todes holt die verletzten Seelen, die Trauer frisst mich auf, ich bin ein Schatten meiner Selbst, gebrochene Flügel, Dunkelheit umfängt mich, rote Tränen rinnen, aber danke der Nachfrage.« Bis heute versteht sie nicht, warum niemand, der, als Gott Menschenkenntnis verteilte, nicht gerade kacken war, sofort in Tränen ausbricht, wenn sie wieder mal, wie seit Menschengedenken, über nichts anderes, als ihre Probleme redet, aber jeden Versuch, diese zu lösen, im Keim erstickt. Bis heute ist sie überzeugt, wenn ihre altgedienten Maschen: von einer fiktiven Krankheit namens »SVV« zu sprechen, oder den Zustand ihrer Arme auf »Selbsthass«, »Borderline«, oder andere pychischen Gebrechen zu schieben, von denen sie nicht die leiseste Ahnung hat, nicht mehr ziehen, hat sich der Gesprächspartner aber sofort von Mitleid zu verzehren, wenn man ihm mit Selbstmord droht, und wenn nicht, dann wird eben zur Strafe »gecuttet«, und wenn er sich dann nicht entschuldigt, dann kann man ihn mit Fug und Recht als herzloses Schwein beschimpfen.
Und wenn Katharina noch nicht gestorben ist, dann nennt sie ihr Verhalten noch heute 'stummer Hilfeschrei', während alle anderen es 'völlig bescheuert' nennen."
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