Der Yale-Historiker Timothy Snyder ist einer der großen Experten für Totalitarismus. 30 Jahre nach dem Mauerfall bat »Capital« ihn zum Gespräch – über die schwierige Europawahl, den Siegeszug des Populismus und den Einfluss Moskaus
Teil 3
Capital:
Trotzdem könnten Anti-Europäer das EU-Parlament kapern.
Timothy Snyder:
Europa hat ein spezielles Problem. Wenn das EU-Parlament von Anti-Europäern übernommen wird, wird sich die EU selbst von innen heraus zerstören. Diese Leute wollen, dass die Europäer wieder zu Nationalstaaten zurückkehren. Wenn sie das tun, landen sie als hilflose Objekte in einer Einflusssphäre zwischen den USA, China und Russland. Ohne das europäische Projekt könnte sich das Leben für viele Menschen in Europa dramatisch verändern.
Capital:
Was kann man dagegen tun?
Timothy Snyder:
Zwei Argumente: Zum einen ist es patriotisch, in der EU zu sein. Wem ein deutscher, belgischer oder polnischer Staat am Herzen liegt, muss verstehen, dass die EU erst dafür gesorgt hat, dass diese Staaten überhaupt funktionieren. Zum anderen muss man klarmachen, dass Europa die einzige Einheit ist, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist. China hat auch einen Weg: Das Leben der Menschen wird durchautomatisiert, jedes Individuum wird durchleuchtet und bewertet. Das ist beängstigend. Amerika setzt sich derzeit gar nicht mit dem 21. Jahrhundert auseinander. Nur Europa kümmert sich um den Klimawandel, den Datenschutz, um Monopole oder den Reichtum in Offshore-Zonen. Europa hat etwas zu bieten, wenn es um die Zukunft geht.
Capital:
In Ihren Büchern spielt Russland eine große Rolle: Sie beschreiben das Land als den großen Schurken, der bei der Wahl Trumps, beim Brexit und dem Aufstieg der Ultrarechten in Europa seine Finger im Spiel hat. Räumen wir Russland damit nicht eine zu große politische Bedeutung ein?
Timothy Snyder:
Russlands Führung hat Macht, aber sie bekommt sie von uns. In der Außenpolitik nutzt Russland die Schwächen, die es bei anderen entdeckt hat. Nehmen wir die Ukraine: Russland marschiert in ein Land ein und schafft es, viele Deutsche davon zu überzeugen, dass etwas völlig anderes geschehen ist. Über soziale Medien und Propagandisten haben sie den Eindruck erweckt, dass Faschisten die Kontrolle über die Ukraine übernommen hätten. Warum gelingt ihnen das? Weil wir sie lassen. Die Russen haben Macht, weil wir gespalten sind und sie das ausnutzen. Wir haben die Wucht des Informationskriegs unterschätzt.
Capital:
Aber haben die Russen eine echte eigene Ideologie?
Timothy Snyder:
Sie haben auf jeden Fall eigene Ideen. Auch wenn sie nur rechtfertigen sollen, dass jemand anderes zerstört wird. Wir haben gedacht: Die liberale Demokratie ist attraktiv, jeder wird das sehen und dem Modell folgen. Aber Russland hat an einem anderen Punkt sein Gleichgewicht gefunden, ob wir das gut finden oder nicht. Sie sagen, dass es keine Wahrheit gibt. Mit dieser Idee kann man weit kommen und uns beeinflussen.
Capital:
Welches Interesse verfolgt der Kreml damit?
Timothy Snyder:
Russland ist wirtschaftlich abhängig von Öl und Gas. Deshalb wollen sie nicht über den Klimawandel sprechen. Es gibt eine extreme Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, weshalb der soziale Aufstieg in Russland schwerfällt. Es gibt keinen funktionierenden Rechtsstaat. Jedem kann jederzeit alles passieren. Das alles macht es sehr schwer, an die Zukunft zu denken. Darüber hinaus weiß kein Mensch, was nach Putin kommt – aber niemand redet darüber. Die Zukunft ist ein Tabu, also muss man in der Gegenwart leben. In einer unterhaltsamen oder Schrecken erregenden, aber sehr emotionalen Gegenwart der künstlich erzeugten Katastrophen.
Capital:
Aber was hat das mit uns, mit den westlichen Demokratien zu tun?
Timothy Snyder:
Weil Russland keine Zukunft hat, muss es uns die Zukunft nehmen. Die größte Gefahr für Putin ist ja ein alternatives, erfolgreiches Modell, das seine eigenen Schwächen offenlegt. Es gibt nämlich etwas, was die russische Führung nicht kann: ein Land schaffen, in dem Menschen wirklich leben wollen. Die Wirklichkeit ist ihre Schwachstelle. Deshalb muss Russland die EU zerstören, bevor Putin die Macht verliert.
Capital:
Es gibt eine Tendenz, das russische System nachzuahmen: Erdoğan (Erdogan) in der Türkei, ViktorOrbán in Ungarn. Es fällt schwer, sich eine Zeit nach ihnen vorzustellen.
Timothy Snyder:
Ja. Und all das erinnert uns daran, warum die Demokratie gut ist. Weil sie eine Zukunft möglich macht. Die amerikanische Demokratie hat große Mängel, aber sie ist stark genug, dass man sich eine Zeit nach Trump vorstellen kann. Das Gleiche gilt für Deutschland: Wir wissen nicht, was nach Angela Merkel kommt. Aber wir wissen, dass etwas kommt. Der Warlord mit Charisma ist zu Beginn immer spannend. Aber die Politik dreht sich um die Frage, was danach kommt. Und die Demokratie ist eine Antwort auf diese Frage.
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