Der Yale-Historiker Timothy Snyder ist einer der großen Experten für Totalitarismus. 30 Jahre nach dem Mauerfall bat »Capital« ihn zum Gespräch – über die schwierige Europawahl, den Siegeszug des Populismus und den Einfluss Moskaus
Teil 2
Capital:
Derzeit benutzen aber viele eine alarmistische Sprache, nicht nur Autokraten, sondern auch demokratische Politiker, Historiker und Ökonomen: Die Welt sei in Aufruhr und aus den Fugen, heißt es dann. Ist diese Sprache des Ausnahmezustands schon eine Falle?
Timothy Snyder:
Wir müssen einen Mittelweg finden. Es ist tatsächlich gefährlich zu sagen: Die Welt ist aus den Fugen – denn die Konsequenz ist, dass wir nichts dagegen tun können. Die andere Falle aber liegt darin zu sagen: Na ja, wenn man sich die objektiven Zahlen ansieht, ist doch eigentlich alles in Ordnung. Auch da ist das Ergebnis, dass wir nichts tun müssen. Die Erkenntnis muss sein: Es gibt große Probleme, aber wir können sie lösen, gerade weil wir die Technologie und den Fortschritt haben. An dieser Einstellung mangelt es.
Capital:
Es gab ja die Hoffnung, das Internet und der freie Zugang zu Informationen würden die Debatten rationaler machen.
Timothy Snyder:
Das Internet hat die Probleme aber noch verstärkt.
Capital:
Was meinen Sie damit?
Timothy Snyder:
Ein Internetzugang ist nicht das Gleiche wie Zugang zu realen Tatsachen, zu einem gemeinsamen Pool an Fakten. In der Debatte zur Meinungsfreiheit wurde immer vorausgesetzt, dass wir schon zur Wahrheit gelangen werden, wenn jeder Zugang zu den gleichen Informationen hat. Aber was heißt das? Wenn Sie auf Google gehen, werden Ihnen andere Dinge gezeigt als mir, und wir sind uns noch relativ ähnlich. Was passiert erst, wenn ein arbeitsloser Bergarbeiter in West Virginia auf Google geht?
Capital:
Warum ist das ein Problem?
Timothy Snyder:
Eine offene Gesellschaft verlangt, dass wir Sorge für die Informationen tragen. Wir leben in einer Welt, die vor allem von Maschinen gemacht wird, die Informationen schneller übermitteln als unsere Gehirne. Informationen gehen nicht mehr von Mensch zu Mensch, sondern es wechseln Gigabyte von einer Maschine zur anderen. Die Gesellschaft kann zerbrechen, weil die Menschen an große Fiktionen glauben. Genau das passiert in den USA. Wir brauchen ein Ethos der Wahrheit. Derzeit haben wir ein Vakuum, das erst vom Fernsehen und jetzt von Facebook gefüllt wird. Wahrheit ist nichts, was einfach so kommt, weil es einen funktionierenden Markt oder gute Institutionen oder das Internet gibt. Heute gelangt derjenige an die Macht, der Emotionen am besten manipulieren kann.
Capital:
Beruht darauf auch der Erfolg von Donald Trump?
Timothy Snyder:
Ja. Trump gehört zu denen, die die Wahrheit an sich loswerden wollen. Es klingt, als hätte diese Idee eine befreiende Wirkung. Aber es ist eine furchtbare, autoritäre Idee. Wenn es keine Wahrheit gibt, dann funktioniert Pluralismus nicht. Kein Rechtsstreit kann geklärt werden, wenn es keine Wahrheit gibt. Wie kann man eine Wahldebatte führen, wenn die Teilnehmer nicht über die grundlegenden Fakten übereinstimmen? Diese Ideologie zersetzt unsere Institutionen wie Säure.
Capital:
Brauchen wir deshalb mehr Regulierung im Netz?
Timothy Snyder:
Das ist eine große Frage. Wir brauchen Fakten, die von allen anerkannt werden – sie müssen ein öffentliches Gut sein wie saubere Luft oder reines Wasser. Konkret gefragt: Warum sollten Regierungen keine Suchmaschinen betreiben? Als Alternative zu Google. Es spricht auch viel dafür, Computer aus dem Klassenzimmer zu verbannen.
Capital:
Wie bitte? In Deutschland ringen wir eher darum, Computer in die Klassenzimmer zu bekommen.
Timothy Snyder:
Das mag sein, aber es ist absurd. Computer in Schulen haben fast ausschließlich negative Auswirkungen. Im Silicon Valley gibt es keine Rechner in den Klassen. Die Menschen, die uns mit dieser Technologie versorgen, schicken ihre Kinder alle in Schulen ohne Computer. Ihre Babysitter müssen unterschreiben, dass sie keine Smartphones ins Haus bringen. In 20 Jahren werden auch Deutschland und Europa verstehen, warum das richtig ist.
Capital:
Die Europawahl könnte viele EU-Gegner ins Parlament spülen. Wie pessimistisch sind Sie für Europa?
Timothy Snyder:
Wenn ich mir Frankreich und Deutschland ansehe, fühle ich mich an die Situation in Großbritannien und den USA vor einigen Jahren erinnert. Die Dinge könnten außer Kontrolle geraten, und die Menschen sind sich dessen nicht bewusst. Ich sehe aber auch, und das gibt mir etwas Hoffnung, dass es Europäer gibt, die versuchen, aus den Ereignissen in Großbritannien und den USA zu lernen. Es gibt deutsche Konservative, die sehen, was mit den Republikanern in den USA und den britischen Tories passiert ist.
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