spricht nicht, daß einzelne Techniken des Zeitungstheaters, wie z. B. »rhythmisches Lesen«, einen betont spielerischen Charakter haben können.
Jeder kann Zeitungstheater machen. So wie jeder seine Ideen in einer Versammlung darlegen kann, ohne die Kunst der Rhetorik zu beherrschen, so kann jeder, können wir alle uns der Ausdrucksmittel des Theaters bedienen, ohne professionelle Schauspieler zu sein. Es geht nicht darum, ein Kunstwerk zu schaffen. jeder kann Künstler sein, jeder Raum kann zum Theaterraum werden, jedes Thema ist ein Thema fürs Theater. Es gibt nichts, was sich nicht fürs Theater verwenden ließe: Zeitungsmeldungen so gut wie politische Reden, Werbeslogans, Schulbücher, die Geschichte Brasiliens - eine Gruppe war darauf spezialisiert, Geschichtsbücher in korrigierter Fassung vorzutragen -, die Bibel, Statistiken, Dokumente, Versammlungsprotokolle, fiterarische Werke, wissenschaftliche Texte, kurz, alles Geschriebene und Gedruckte.
Das Zeitungstheater, später von mehr als 4o Gruppen betrieben, wurde entwickelt von der Gruppe Nücleo do Teatro de Arena de Säo Paulo, dessen künstlerischer Leiter ich von ig56 bis 197I war, dem Jahr, in dem ich Brasilien verlassen mußte.
Elf Techniken des Zeitungstheaters
Einfaches Lesen
Die Meldung wird aus dem Kontext herausgelöst und kommentarlos vorgelesen. Die Gruppe Club Teatro de Montevideo verlas zum Beispiel im Stadion von Pefiarol das in allen Zeitungen veröffentlichte Menü des Banketts, das Ex-Präsident Pacheco Areco zu Ehren des amerikanischen Botschafters gegeben hatte. Es wurden lediglich die einzelnen Gänge zitiert. Beim Hors d'ceuvre lachte das Publikum noch. Beim Hauptgericht verstummte das Lachen. Spätestens dann erinnerten sich die Zuhörer, daß der amtierende Präsident für die Dauer von vier Monaten den Verzehr von Rindfleisch im ganzen Land verboten hatte.
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2. Vervollständigendes Lesen
Eine der beliebtesten Techniken der bürgerlichen Presse besteht in der Unterschlagung wesentlicher Informationen. Oft genügt es, ein Wort oder einen Satz auszulassen, um einer Meldung einen gänzlich anderen Sinn zu geben. Eine Meldung ergänzen heißt, die notwendigen Hintergrundinformationen hinzufügen. Als Stroessner wieder einmal Wahlen veranstaltete, um der Welt vorzuspiegeln, daß in seinem Lande demokratische Verhältnisse herrschten, wurden überall Plakate angeschlagen: »Wer die Freiheit liebt, wählt Stroessner.@ Das war ein gutgemeinter Rat, der rundum der Wahrheit entsprach. Ein Unbekannter hatte auf einem Plakat am Flughafen den Satz vervollständigt: »... andernfalls holt dich die Polizei!- - Eine bolivianische Zeitung kritisierte die Zustände in Chile unter Allende: »In Chile Schlangen vor den Geschäften, in Bolivien volle Schaufenster.- Die Schlagzeile selbst entsprach der Wahrheit. Herausgestellt werden sollte die katastrophale Versorgungslage Chiles im Gegensatz zum Wohlstand Boliviens: »Wohl dem, der in Bolivien lebt, und nicht im Sozialismus.« Ergänzte man die Meldung, so bekam sie einen ganz anderen Sinn: »In Chile gibt es Schlangen vor den Geschäften, in Bolivien volle Schaufenster - weil in Bolivien Lebensmittel Luxus, in Chile dagegen für alle erschwinglich sind.«
3. Gekoppeltes Lesen
Nicht selten bringen Zeitungen in ein- und derselben Ausgabe Meldungen, die einander widersprechen, sich gegenseitig dementieren oder aufheben. Nacheinander gelesen ergeben sie einen neuen Sinn. Wegen der alarmierend hohen Kindersterblichkeit wurde die Provinz San juan zum Notstandsgebiet erklärt. Mitglieder einer Zeitungstheatergruppe verlasen in einem Vorortzug von Buenos Aires diese Meldung, gekoppelt mit einer Reportage über eine Schauspielerin, die im Fernsehen für Delikatessen warb. Die beiden Texte wurden kommentarlos vorgelesen: Käsesorten, Preise und Exportland, Zahl der verhungerten Kinder, Medikamentenpreise. Allein die Gegenüberstellung genügte, um ein neues Licht auf die Verhältnisse zu werfen.
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