Der Garten
Raymond schaute auf Linda.
Sie war seine Frau seit mehr als drei Jahrezehnten. Linda, dass bedeutete Fleiß, Kraft, Demut, Pflicht und ja, auch Liebe.
Raymond schaute auf Linda, wie sie sich mit einer Heckenschere an den Gartensäumen abrackerte.
Das Geld für einen Gärtner wäre da gewesen, doch Raymond wußte, dass Linda es nie zugelassen hätte. Niemand, wirklich niemand, durfte an ihre Rosenrabatte. Den Goldfischteich, die Tulpenwiese oder an das Feuchtbiotop heran.
Raymond schaute auf Linda.
Eine Frau, die drei Kinder geboren hatte, zwei Töchter und einen Sohn. Die Kinder waren allesamt inzwischen erwachsen, und nur der Sohn behielt es vor, auf dem elterlichen Anwesen wohnen zu bleiben. Kathy und Fiona waren längst in der Stadt verheiratet. Glücklich, wie es schien, wenn Linda und er zu einer ihrer Feiern eingeladen waren.
Doch Raymond kümmerte sich nicht um die verheirateten Töchter, er liebte seinen Sohn Twain.
Twain war nicht wie er und schon gar nicht wie Linda. Nein, irgend etwas Fremdes brachte er durch seine launische, verspielte Art mit sich.
Er war weder fleißig noch redlich, nicht demütig und auch nicht pflichtbewußt. Eigentlich wußte Raymond über seinen Sohn rein gar nichts, außer, daß er ihn liebte. Twain war seit einigen Tagen nicht mehr im Landhaus gesehen worden, was nichts Ungewöhnliches darstellte. Häufig kam er nach ein paar ausgedehnten Nächten froh und überschwenglich gelaunt nach Hause.
Doch diesmal kam er nicht heim. Raymond hatte keine Angst vor irgend etwas. Vielleicht ein wenig vor Linda, aber ansonsten war er ein ausgeglichener Mann, dem es an nichts mangelte.
Linda schaute auf Raymond.
Da saß er in seinem alten Schaukelstuhl, rauchte Zigarre, blies Ringe in die Luft und schien mit sich und der Welt zufrieden.
Linda schaute auf Raymond.
Über dreißig Jahre Ehe, nie ein böses Wort, immer eher lobend als tadelnd. Sie nahm ihre Heckenschere und wandte sich dem Schuppen zu. Dort stand der Kantenschneider, der dem Garten den letzten Schliff verleihen würde.
Drei Kinder hatten sie großgezogen. Allesamt Prachtkinder, besonders Kathy. Sie hatte Simon, den jungen aufstrebenden Anwalt in der Stadt geheiratet. Der würde bestimmt einen guten Richter oder Staatsanwalt abgeben. Fiona hatte ihr Glück in dem vollbärtigen Grundschullehrer Jack gefunden, der für Lindas Geschmack etwas zu redselig war.
Als sie noch mit dem schweren alten Schlüssel den Schuppen aufschloß, hatte sie eine eigenartige Stimmung heimgesucht. Wo war Twain? Warum ließ er sich nicht blicken? Sicher, er war ein junger Mann mit Vorliebe für Wein, Weib und Gesang, doch heute an seinem Geburtstag hätte er doch schon heimkommen können. Sie überlegte, wo sie das Geschenk für ihn verkramt hatte. Ah ja, es fiel ihr sogleich ein, im Schuppen! Na, du Bengel, dann bekommst du es halt nächstes Jahr.
Während sie noch in Gedanken schwelgte, hörte sie lautes Hufgetrappel. Eine ganze Horde von Reitern schien sich dem Anwesen zu nähern. Ihr Blick fiel auf die Hyazinthen und den frisch gestutzten Oleander, als das Gedonner der Hufe einen bedrohlichen Klang angenommen hatte.
Sie schaute in den blauen Himmel. Ein schöner Tag dachte sie.
Raymond schaute auf Linda.
Er sah es kommen, aber war unfähig auch nur einen Laut von sich geben zu können. Er bewegte keinen Muskel, und das Unheil nahm seinen Lauf.
Linda schaute über die Büsche und hielt eine Hand schützend gegen das Sonnenlicht vor ihre Augen. Es konnte nicht sein, doch es wurde Wirklichkeit!
Es war Twain, ganz deutlich auszumachen, als erster Reiter in seinem hellroten Polotrikot. Schon setzte er zum Sprung über die sorgsam gepflegte Hecke an.
Linda war nicht mehr Linda. Wie unter Drogen stehend lief sie in den Schuppen und griff nach dem Geburtstagsgeschenk für Twain. Ein edles Repetiergewehr, daß er sich so sehr gewünscht hatte.
Es verging keine Minute, und Linda stand wieder vor dem Schuppen. Die Sonne lachte grell vom Himmel, als die Kugel krachend den Lauf verließ.
Raymond schaute auf Linda und schaute auf Twain.
Im selben Augenblick als Twain mit seinem Polopferd den Goldfischteich erreichte, fiel auch der Schuß.
Wie in Zeitlupe ließ Linda die Waffe auf den Boden fallen. Ebenso langsam glitt die Zigarre aus Raymonds Fingern.
Unendlich langsam malte sich auf dem hellroten Poloshirt von Twain ein häßlicher dunkelroter Fleck. Ein Fleck, der niemals verschwinden würde.
Raymond sah es und Linda sah es, doch keiner von ihnen konnte so etwas wie Reue empfinden.
Ende
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