Eine Rassentheorie (auch Rassenkunde oder Rassenlehre) ist eine Theorie, die die Menschheit in verschiedene „Rassen“ einteilt und diese essentiell oder substantiell als natur- oder gottgegebene Einheiten beziehungsweise biologische Tatsachen auffasst. Ganz allgemein liegt diesem Denken die seit der Renaissance diskutierte Idee von der Ungleichheit der Menschen zugrunde, die in der Neuzeit zu Verunsicherungen führte. Die Entdeckungen jener Zeit standen im Widerspruch zu der vom Kirchenlehrer Augustinus vertretenen Auffassung, zeigten sich doch, dass es eine Vielzahl irdischer Welten gibt und die Diskussion über den polygenetischen Ursprung der Menschheit nicht mehr ausgeschlossen werden konnte.[1]
Die Ausarbeitung von Rassentheorien und Rassenlehren erfolgte indessen erst im 19. Jahrhundert. Die große Anzahl der jeweils entwickelten Theorien, die jeweils mit dem Anspruch von Wissenschaftlichkeit formuliert wurden, dienten in der Folge mit je unterschiedlichem Gewicht als Grundlage des modernen politischen Phänomens des Rassismus. Unter einem religiösen Vorzeichen wurden zahlreiche dieser Theorien theologisch begründet, indem „Rasse“ neben „Volk“ und Staat zur Schöpfungsordnung verbrämt wurde.[2] Insbesondere für derartige „politische Theologien“ wurde in der Folgezeit sowohl der kennzeichnende Begriff Rassenideologie als auch der analytische Begriff Politische Religion verwendet.[3] Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der biologisch begründete Rassismus von der Mehrheit der Forscher abgelehnt, allerdings noch nicht die Einteilung der Menschheit in Rassen. Wissenschaftler aus der ganzen Welt erarbeiteten 1950 das UNESCO Statement on Race Problems[4] und 1965 das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung.[5]
Die Theorie von drei so genannten „Großrassen“ der Menschheit hielt sich zunächst viele Jahre in der Wissenschaft. Wissenschaftler distanzierten sich in jener Zeit allerdings bereits vom Missbrauch dieser Kategorien. Noch bis Ende des 20. Jahrhunderts beschrieben Lehrbücher eine Einteilung der Menschen in drei „Großrassen“: „Europide“, „Mongolide“ und „Negride“.[6] Seit den 1990er Jahren wurde diese Theorie gleichsam verstärkt in Zweifel gezogen.[7] 1995 forderte die „Wissenschaftliche Arbeitsgruppe der internationalen UNESCO-Konferenz gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung“, dass „das überholte Konzept der ‚Rasse‘ durch Vorstellungen und Schlussfolgerungen zu ersetzen“ sei, „die auf einem gültigen Verständnis genetischer Variation beruhen, das für menschliche Populationen angemessen ist“.[8] Des Weiteren stellte die Arbeitsgruppe fest, dass Rassen beispielsweise aufgrund ihrer geographischen Verbreitung traditionell als untereinander verschieden angesehen werden. Diese Einteilung in Untergruppen widerspreche dem aktuellen Stand der Forschung.[8]
Während 1985 noch 30 bis 50 Prozent der Anthropologen das Konzept von „Rassen“ als sinnvoll erachteten, sank dieser Prozentsatz im Jahre 1999 auf 14 bis 24 Prozent.[9] Heidrun Kaupen-Haas und Christian Saller konstatierten 1999, dass die Einteilung der Menschheit in Rassen an sich schon eine rassistische Theorie sei, die aus außerwissenschaftlichen Alltagsvorstellungen und sozialpsychologischen Bedürfnissen gespeist werde.[10] Der Anthropologe Volker Sommer fasste 2007 den Stand der wissenschaftlichen Diskussion zur Anwendung des Begriffs „Rasse“ auf den Menschen wie folgt zusammen: „Wenn es nach den heute maßgeblichen Biologen ginge, gehört der Begriff tatsächlich abgeschafft.“[11] Moderne populations- und molekulargenetische Untersuchungen zeigten, dass die herkömmliche Einteilung der Menschheit in Rassen keine wissenschaftliche Grundlage besitzt.[12] Enzyklopädien wie der Brockhaus oder Meyers Lexikon bezeichneten in ihren aktuellen (Brockhaus ab 2006) Ausgaben derartige typologisch-rassensystematische Kategorien als „veraltet“.[13] Auf der Grundlage der neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse sprach sich 2008 das Deutsche Institut für Menschenrechte insbesondere gegen die Verwendung des Begriffs „Rasse“ in Gesetzestexten aus.[14] Auch heute wird der Rassenbegriff im Artikel 3 („Gleichheit vor dem Gesetz“) des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verwendet.
|