Das Abschweifen bei der Lektüre ist vom Autor durchaus erwünscht. Am 5.2.98 notiert er: »Vergesse ich immer wieder: Bücher einfach IRGENDWO aufschlagen - und dann zu lesen anfangen - es gibt einen freien, klaren, unbeeinträchtigten, vom eigenen Problem losgelösten Blick auf die Sache - frei auch von der unweigerlichen Urteilsabsicht, die automatisch mitliest, wenn man so ganz neugierig von vorne zu lesen anfängt.«
»Abfall für alle« ist ein Tagebuch, genauer gesagt: ein Internet-Tagebuch. Ein Jahr lang, vom 4.2. 1998 bis zum 9.1. 1999, hat Rainald Goetz Protokoll geführt über sein Leben und diese Tag-für-Tag-Protokolle dann jeweils am nächsten Morgen ins Internet gestellt. Wer den Suchbefehl www.rainaldgoetz.dein seinen Computer eingab, konnte damals einem Dichter beim Dichten über die Schulter schauen: eine spannende Sache. Jetzt, ein dreiviertel Jahr später, ist aus dem virtuellen ein tatsächliches Tagebuch geworden, eines zum in die Hand nehmen und ins Regal stellen: »Abfall für alle. Roman eines Jahres«, Suhrkamp Verlag, Frankfurt / Main 1999, 864 Seiten, 49,80 Mark. Der Text ist immer noch der gleiche, hat aber plötzlich einen anderen Sinn bekommen. Vor einem Jahr war »Abfall für alle« ein work in progress, das Spiel eines Schriftstellers mit den Möglichkeiten des Internet. Nicht lange herumfeilen an einem Text, sondern einfach jeden Tag eine Text-Ladung, wie Goetz sagt, »rausballern«: Das war die Maxime beim Schreiben. Gedruckt ergeben die Fragmente nun ein vollständiges Bild: die Chronik eines Jahres. Die Ereignisse, die Goetz schildert - etwa das Zugunglück von Eschede, die Bundestagswahlen, der Tod von
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