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Welt schrieb am 3.10. 2015 um 13:32:58 Uhr über

Ostzonaler

Homilius: Gottfried August H. ist den 2. Februar 1714 zu Rosenthal bei Königstein in Sachsen geboren. Sein Vater, Gottfried Abraham H., war Pfarrer daselbst, und vom Sommer 1714 an Pfarrer zu Porschendorf; seine Mutter war eine Tochter des Pfarrers Freiberg zu Stolpen. Ueber den Gang seiner Bildung wissen wir nur das Eine, was allerdings wichtig genug ist: er wurde Schüler Sebastian Bachs in der Musik. Wann er zu diesem Zwecke sich in Leipzig aufgehalten hat, läßt sich nur ungefähr dadurch bestimmen, daß H. 1742 als Organist der Frauenkirche zu Dresden ins Amt trat. Diese damals noch im Bau begriffene Kirche hatte 1736 schon eine große Silbermannsche Orgel erhalten, an der es als Merkwürdigkeit beobachtet wurde, daß sie nicht in den Chorton, sondern in den Kammerton gestimmt war. Als 1743 die Kirche ganz vollendet war und zur Feier dieses Ereignisses ein Lob- und Dankgottesdienst abgehalten wurde, erregte H. durch sein schönes Orgelspiel Bewunderung. Ende 1753 versuchte er durch Vermittelung eines Dresdener Gönners, Namens Morgenstern, die erledigte Organistenstelle zu Zittau zu erhalten. Der Versuch schlug fehl, Johann Trier wurde gewählt. Dagegen erfuhr H. bald in Dresden selbst Beförderung. 1755 war Theodor Christlieb Reinhold, Cantor der Kreuzschule und Musikdirector der drei evangelischen Hauptkirchen, gestorben. Durch Verfügung des Rathes vom 10. Juni 1755 wurde H. sein Nachfolger; zugleich erhielt er die frei gewordene fünfte Lehrerstelle an der Kreuzschule. Seine Stellung als Musikdirector war auch dadurch eine ausgezeichnete, daß er in allen die Kirchenmusik betreffenden Dingen von dem Rector der Kreuzschule ganz unabhängig dastand; die musicirenden Schüler hatten einzig nur seinen Anordnungen zu folgen, es konnten also Conflikte, wie sie beispielsweise Bach in Leipzig erleben mußte, hier nicht vorkommen. Uebrigens beschränkte sich Homilius’ Kirchendienst die meiste Zeit auf die Frauen- und Sophienkirche, da die Kreuzkirche im siebenjährigen Kriege (19. Juli 1760) zerstört und zu seinen Lebzeiten nicht wieder hergestellt wurde. Glanzpunkte seiner Thätigkeit als Componist waren das Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens 1755 und das Friedensfest nach Beendigung des siebenjährigen Krieges. Obgleich er als Musikdirector mit der Orgelkunst amtlich nichts mehr zu thun hatte, blieb er ihrer Pflege doch lebensiang getreu. Noch 1776 hörte ihn Johann Friedrich Reichardt in der Frauenkirche fantasiren und eine hervorragende Fertigkeit, Gewandtheit im polyphonen Spiel und Kunst der Registrirung an den Tag legen. Im December 1784 rührte ihn der Schlag, dem am 2. Juni 1785 der Tod folgte. Sein Nachfolger wurde Christian Ehrengott Weinlich, bisher, wie einst H. selbst, Organist an der Frauenkirche. H. war zwei Mal verheirathet; drei seiner Söhne, welche Theologie studirt hatten, sah der Vater innerhalb 6 Jahren sterben. – Ernst Ludwig Gerber behauptete, H. sei ohne Widerrede unser größter Kirchencomponist. Aeußerungen anderer Zeitgenossen beweisen, daß dies nicht das Urtheil eines vereinzelten Schwärmers war. Auch läßt es sich ganz wohl begreifen. H. verband eine tüchtige wissenschaftliche Bildung mit einer so umfassenden musikalischen, daß er sich vor keiner Aufgabe zu scheuen brauchte. Er besaß die Kraft selbständiger Erfindung und guten Geschmack. Er sah in der Kirchenmusik nicht den Bastard weltlicher Kunstübung; sie erschien ihm als originale Kunstgattung, und ihr seine ganze Lebenskraft zu widmen, war sein, des protestantischen Predigersohnes, Ideal. Wirklich hat er auch fast ausschließlich für die Kirche geschrieben; eine italienische Cantate und ein Clavierconcert mit Streichinstrumenten ist alles, was sich von weltlichen Compositionen erwähnt findet. Wer von höherer Warte aus die Entwickelung protestantisch-kirchlicher Tonkunst überschaut, dem liegt freilich der Irrthum jener Lobredner klar vor Augen. Er wird sich sogar zu der Frage veranlaßt fühlen, ob Homilius’ Musik überhaupt eine kirchliche zu nennen ist. Die Frage deckt sich beinahe mit einer anderen: wie war sein Verhältniß zu Seb. Bach? Es ist bezeichnend, daß Homilius’ Bewunderer hiervon niemals reden. Dagegen nennt ihn Samuel Petri geradeheraus einen Nachfolger Grauns und Hasses (Anleitung zur praktischen Musik, S. 102) und Gerber sagt sogar, er habe die Orgel in Grauns Manier gespielt. Geht man seine Kirchencompositionen durch, so fehlt es nicht ganz an Zügen, die auf Bach zurückweisen. Hier und da findet sich eine Arie, in welcher, Bachs Weise ähnlich, die Singstimme in einen polyphonen Instrumentalsatz eingeflochten erscheint. Das in eine Choralzeile auslaufende Recitativ, auch das mehrstimmige Recitativ sind nicht ohne Beispiel. Und in einem großen Chor der Neujahrscantate „Bezeichnet von der Hand der Freudebefindet sich eine Fuge („Denn unser Herz freuet sich sein“), die beinahe für eine Composition Bachs gelten könnte, jedenfalls seinen starken Einfluß verräth. Aber diese Züge verschwinden unter der abweichenden Art aller übrigen. Die protestantische Kirchenmusik beruht auf dem Choral, und zwar zunächst nicht dem gesungenen, sondern dem gespielten und zur beherrschenden Macht der gesammten Orgelkunst erhobenen; erst in zweiter Linie beruht sie auf den aus der Orgelmusik hervorgegangenen concertirenden Vocalformen. Daß Bach es vermocht hat, aus dem einen Keim des gespielten kirchlichen Volksliedes seine ganze Kunst zu entwickeln oder doch mit ihm in organische Verbindung zu bringen, das ist seine Größe als protestantischer Kirchencomponist, und verbürgt seinen Werken unvergängliche Lebenskraft. Auch H. hat den Choral zum Gegenstande für Orgelcompositionen genommen; wir besitzen 12 Choraltrios für zwei Manuale und Pedal. Aber die Behandlung der Orgel ist schon nicht mehr ganz stilgemäß, mögen manche von ihnen auch deutlich noch erkennen lassen, in welcher einzigen Schule der Componist gesessen hatte. In den Cantaten und Passionen spielt der Choral nur eine beiläufige Rolle. Ihn zum Mittelpunkte größerer Formen zu machen, wird kaum je versucht. Im schlichten vierstimmigen Satze wird er in den Cantaten zuweilen, in den Passionen häufiger eingeführt. Manche hielten und halten eine solche Harmonisirung für die eigentlich stilvolle, der Würde des Chorals entsprechende, mithin auch kirchliche. Aber in der Verbindung, welche der Choral mit den anderen Tonformen jener Cantaten Und Passionen eingehen muß, bewirkt sie das Gegentheil. Der Contrast eines einfach getragenen Gesanges zu der übrigen, bunt bewegten Musik dient vor allem der Erzielung eines rein musikalischen Effekts. Dies Verfahren hat für jede tiefere kirchliche Empfindung etwas beleidigendes. Soll der Choral in die kunstmäßige Kirchenmusik eingeführt werden, so kann er kraft seiner symbolischen Bedeutung nur ihr Mittelpunkt sein. Bei Bach ist er das: alles Leben strömt gleichsam von ihm aus und zu ihm wieder zurück. Aber die Zeit, deren Kind H. war, verstand das Wesen des Chorals nicht mehr. Was den Einfluß betrifft, den Hasse und Graun auf H. geübt haben sollen, so ist derselbe in der That vorhanden. Indessen Hasse bedeutet für die Musik der protestantischen Kirche nichts und Graun sehr wenig. Das ist bei H. anders. Er hat die künstlerischen Resultate dieser beiden Männer, welche damals auf deutschem Boden fast in allen Dingen den Ton angaben, sich gründlich angeeignet. aber zum Zwecke eines anderen Ideals, in dessen Dienst er sein ganzes Leben gestellt wissen wollte. H. hat seinen eigenen Stil; man muß ihn neben Hasse und Graun als gleichwerthigen Dritten stehen lassen und anerkennen, daß er auf seinem Gebiete für die Mit- und Nachwelt von gleich großer Bedeutung gewesen ist. Die Elemente seiner Ausdrucksweise hat man nicht nur bei den genannten Meistern zu suchen, sondern auch bei den Italienern der Periode Lottis und Leos, deren Werke ihm in der italianisirten Musikübung des Dresdener Hofes entgegentraten. Er hat ferner von Händel gelernt und von den vorbachischen protestantischen Kirchencomponisten. Ein Magnificat ohne Instrumentakbegleitung in C-dur, responsorisch gestaltet aus der altkirchlichen Psalmenmelodie und frei erfundenen Gegenstücken, läßt sich den stilvollsten italienischen Kirchencompositionen aus dem Anfange des Jahrhunderts an die Seite setzen. An Händel erinnert die kräftige Plastik mancher Chöre, auch einzelner Arien, man vergleiche z. B. den Chor einer Passionsmusik „Die Könige im Lande lehnen sich auf“, die Baßarie der Cantate auf Sonntag nach Neujahr, „Kommt, laßt uns anbeten und knien“. Es wiegt überhaupt ein Zug zur charakteristischen Musik bei H. vor, der sich zuweilen gar zum Dramatischen im engeren Sinne zuspitzt. Diese Eigenart gibt vielen seiner Cantaten ein erkennbar oratorienhaftes Gepräge. Seine Passionen und die Weihnachtsmusik „Die Freude der Hirten über die Geburt Jesu“ sind im Grunde ganz als Oratorien gedacht. Hätte H. höheren religiösen Schwung und das volle Gefühl für die geschichtliche Größe der darzustellenden Begebenheiten besessen, hätten die Verhältnisse in Deutschland die Pflege einer freien Concertmusik in großem Stile zugelassen, er wäre ein hervorragender Oratoriencomponist und würdiger Nachfolger Händels geworden. Aber die Anschauungen des Rationalismus seiner Zeit hielten seine religiöse Empfindung nieder. „Entfernt von jenem Schwarm der Thoren, Die Tugend und Vernunft verloren, Such ich die Ruh der Einsamkeit“, lautet der Arientext in einer Cantate zum Sonntage Invocavit. Tugendhaft und vernünftig sein, darin fand das allgemeine religiöse Bedürfniß damals sein Genüge. Leider ist nicht zu leugnen, daß H. dieser Anschauung reichlichen Zoll entrichtet. Eine Art kleiner spießbürgerlicher Chöre, eine biedermännische Gemüthlichkeit des Ausdrucks sind bei ihm manchmal ganz unleidlich. Und in diese Sphäre sind bedauernswerther Weise auch seine Oratorien gezogen. Er gibt ihnen selbst zum Theil diesen Namen und mit Recht. Kirchenmusiken sind sie nicht, und wenn H. doch auch eine Marcuspassion mit recitirtem Evangelium geschrieben hat, so wird der Gegensatz zwischen dem, was diese Form verlangt, und dem, was der Componist mit ihr aufgestellt hat, um so fühlbarer. Choräle fehlen auch in den anderen Oratorien nicht, ebenso wenig wie sie in GraunsTod Jesu“ und selbst BachsIsraeliten in der Wüstefehlen. Man kann dies allenfalls damit entschuldigen, daß solche Werke in Deutschland damals nur in der Kirche aufgeführt werden konnten. Die Thatsache einer unerquicklichen Stilvermischung und einer Herabwürdigung des Chorals ist damit nicht beseitigt. Indessen Homilius’ Name würde nicht mit Ehren auf die Nachwelt gekommen sein, wäre er von der religiösen Nüchternheit des Rationalismus ganz umfangen gewesen. Wenn Bachs heroische Glaubensfreudigkeit und inbrünstige Andacht ihm fern lagen, so kommt dafür eine milde Frömmigkeit manchmal zu schönem Ausdruck. Und mehr: es ist ihm eine Art von Chören, namentlich Fugen, eigen, die zwar vor allem seine Freude am Ordentlichen, Wohlklingenden, überallhin Meisterwürdigen bemerken lassen, die aber doch, weit entfernt nur Schulleistungen zu sein, durch charakteristische Belebtheit, geistvolle Verbindungen, durch Würde und einen Anflug von Größe eigenartig erfreuen. Alles in allem zeigen Homilius’ Cantaten und Oratorien das Bild eines talentreichen Mannes, der sein Leben dem höchsten Ideale geweiht hat. Aber die in seiner Zeit entwickelten Kräfte in einen Brennpunkt zu sammeln, wie es Bach und Händel vermochten, dazu reichte seine Begabung nicht mehr aus. Den Mittelpunkt protestantischer Kirchenmusik, den Choral, hat er als solchen nicht erkannt. Damit ist über den allgemeinen Stil jener Werke das Urtheil gesprochen. Es schließt dies nicht aus, daß es ihm gelegentlich dennoch gelingt, den echt kirchlichen Ausdruck zu finden. Er findet ihn aber häufiger durch Anlehnung an die polyphone Vocalmusik der Italiener. Diese ist der protestantischen Kirche nicht fremd und auch in die Kirchenmusik Bachs eingegangen; allein erst durch Bachs Umbildung wurde sie ein Ausdrucksmittel jenes nationalen Elements, das unserem Protestantismus eignet, und von dem H. wenig oder nichts bemerken läßt. H. bezeichnet eine Periode des Niedergangs, in der die Kräfte sich nicht mehr im Zusammenwirken gegenseitig beleben, sondern in Zersplitterung verbluten. Er hat Gluck zum Zeitgenossen. Seine Werke erklären es, warum die mittel- und norddeutsche Tonkunst nach anderthalbhundertjähriger Herrschaft das Scepter niederlegen und einstweilen dem Süden Deutschlands überlassen mußte. Auf Homilius Motetten, deren er eine große Anzahl geschrieben hat, findet das Gesagte indessen nur eine beschränkte Anwendung. Zwar seinem Lehrer Bach ist er auch in dieser Kunstgattung nicht gefolgt. Es lebt in ihnen der Geist der Vorgänger Bachs weiter; vielleicht könnte man auch sagen, er wiederersteht in ihnen. Hinter Johann Christoph Bach bleibt H. an Originalität und Tiefe, hinter Johann Ludwig Bach an Pracht und Glanz zurück; Michael Bach hat einen schwärmerischen, phantastischen Zug vor ihm voraus. Sonst mahnt er durch die Verwendung des Chorals an diesen am meisten. In Homilius’ Motetten spielt in der That der herabgesetzte Choral die ihm gebührende Rolle wieder. Dabei ist die Compositionstechnik von einer Vortrefflichkeit, die den höchsten Forderungen entspricht. Wäre wirklich im unbegleiteten polyphonen Gesange das Ideal protestantischer Kirchenmusik gelegen, man müßte H. unbedingt zu ihren größesten Meistern rechnen. Aber diese Voraussetzung ist falsch. Für den germanischen Protestanten passen diese Form und diese Mittel nur wenig, die mit ihrem süßen Colorit wol stille Andacht und Verklärung ausdrücken können, nicht aber Luthers mächtig brandendes, kampfesfrohes und dem Uebersinnlichen zugewendetes Empfindungsleben. Das Streben der Motettencomponisten des 17. Jahrhunderts hatte seine Erfüllung gefunden in den großen Werken Bachs und mehr noch Händels. Homilius’ Thun war also ein Zurückgreifen auf eine Form, die längst in einer höheren aufgegangen war. Seine Motetten sind eine schöne Nachblüthe. Das wird Niemanden hindern, sich ihres Dustes voll zu erfreuen.


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