Ich spiele immer mal wieder mit dem Gedanken, einen Animationsfilm zu »drehen« (oder vielmehr mit entsprechender Modeling- und Raytracing-Software zu programmieren), der mit (Heim-)Orgeln das macht, was »Cars« mit Autos macht - sie als lebende Wesen mit Sprache und Gefühlen darzustellen.
Ich stelle mir vor, wie die Orgeln sich untereinander ausschließlich durch Musik verständigen, modernere oder luxuriösere Modelle blinken zusätzlich mit Leuchtdioden und/oder Spieltischbeleuchtung, die Orgeln könnnen auch »sprechen«, wenn sie nicht eingeschaltet sind oder am Stromnetz hängen (schließlich soll auch ein Mindestmaß von »Action« in die Handlung kommen und man die Orgeln auch mal in Bewegung sehen, z. B. wie sie auf ihren Gehäusefüßen känguru-artig die Bürgersteige entlanghüpfen), aber nur musikalische Menschen können dieses von den Restladungen in den Kondensatoren gespeiste »elektronische Flüstern« hören.
Eine besondere Herausforderung wäre es, für einen solchen Film eine in sich konsistente Musiksprache aus Melodien, Harmonien und Klangfarben zu entwickeln - den fertigen Film könnte man sich dann in zwei Versionen anhören (sollte mit DVD-Technik kein Problem sein): Musiksprache mit Text-Untertiteln oder stumme Tasten- und Schalterbewegungen mit synchroner Sprecherstimme.
Die Orgeln im Film wären Lebewesen mit allem, was dazugehört: Geburt, Heranwachsen, Sexualität, Fortpflanzung und Tod (wobei letzterer nur eintritt, wenn eine Orgel zu selten gespielt wird und die besagte Restspannung in den Kondensatoren auf Null sinkt - oder natürlich, wenn die Menschen die Kosten für eine Reparatur einer Orgel scheuen und sie im Sperrmüllschredder endet). Sie wären Zwitter, könnten sich aber nicht selbst befruchten , sondern wären auf Sexualpartner angewiesen (darüber, wie so eine Begattung zweier Orgeln aussähe, habe ich mir aber noch keine Gedanken gemacht).
Nach einigen Monaten Tragzeit bringt die Orgel dann ihr Kind zur Welt, es verläßt das mütterliche Gehäuse durch den Schwellpedalkasten, wie alle erwachsenen Orgeln mindestens einen haben. Am Anfang sind die winzigen Gehäuse der Kleinen noch ganz weich und fast durchsichtig, sie kommen mit gerade mal einer Oktave nur weißer Tasten auf die Welt, die schwarzen wachsen ihnen im Laufe der nächsten Wochen.
Zunächst zehren sie noch von den Ladungsdepots aus dem mütterlichen Stromkreislauf, mit vier oder sechs Wochen bekommen sie zum ersten Mal Batteriestrom zu trinken (die 220 Volt aus dem Stromnetz würden so ein kleines Orgelbaby auf der Stelle töten, zumal sich erst mit einsetzender Pubertät die Schnittstellen für Netzstrom entwickeln).
In dieser Zeit beginnen die kleinen Orgeln erstmals, ihre Tasten zu bewegen, bald schon hört man erstes Quäken und Fiepen, was aber von richtigem musikalischen Sprechen noch weit entfernt ist.
Wenn die zweite Oktave voll ausgebildet ist, üblicherweise mit vier bis sechs Monaten, sind die Orgeln alt genug, um den Orgelkindergarten zu besuchen, wo ihnen ältere Orgeln in den folgenden Jahren alles beibringen, was eine Orgel braucht, um sich im Universum der Musik zurecht zu finden.
Manche Orgeln werden bereits in diesem zarten Alter zu Menschen geschickt, die auf ihnen spielen; sofern dies keine ganz kleinen Kinder sind, lernen die Orgeln auch von ihren Spielern.
Die Tonerzeugung ist bei so jungen Örgelchen noch durchweg pneumatisch, der elektrische Strom dient vorerst nur zum Antrieb des Gebläses, das die Luft durch die Zungen drückt. Die Anfänge der Platinenbildung und Transistorisierung setzen normalerweise erst mit der dritten ausgewachsenen Oktave ein, also mit etwa zwei Jahren.
Vorher aber wachsen den meisten Orgelkindern links vom Manual Akkordtasten, mit denen sie nach und nach lernen, die eigenen Gefühle und Stimmungen differenzierter auszudrücken. Bei manchen Orgelkindern kann deren Zahl ganz erstaunlich groß werden, bevor sie sich mit beginnender Pubertät wieder zurückbilden; es wurden schon kleine Orgeln mit 72 Akkordtasten gesehen und gehört, die mit kaum fünf Jahren schon 9, 10 Tonarten fließend sprachen, in Dur wie in Moll...
Die Altersangaben sind hier nur grobe Richtwerte... Orgeln, die das Glück haben, bei sehr musikalischen Menschen aufwachsen zu dürfen, die jeden Tag viele Stunden auf ihnen spielen, durchlaufen ihre Entwicklungsstadien in einem Bruchteil der sonst üblichen Zeit; so ist es schon vorgekommen, dass begabte, frühreife Orgeln mit noch nicht zehn Jahren zwei, ja, sogar drei 5-Oktaven-Manuale, Vollpedal und komplette Theater- oder auch Sakral-Disposition besitzen, während ihre Altersgenossen gerade einmal anfangen, vorsichtig am Netzstrom zu nippen und ein erstes Nussbaumgehäuse noch ohne Pedal ausbilden.
Andererseits gibt es aber auch als kleine quäkende Tischhüpchen zu den Menschen gekommene Jungorgeln, die ihren Spielern nach erster großer Begeisterung schnell langweilig und nicht mehr eingeschaltet werden... viele (nicht alle!) dieser Orgelkinder sterben einen frühen traurigen Tod, vegetieren viele Jahre lang in feuchten Kellern vor sich hin, um irgendwann qualvoll in den Flammen einer Müllverbrennungsanlage zu verenden... oder sie verkümmern - gut gemeint! - in Menschenkindergärten und Grundschulen, wo sie kaum jemals etwas anderes lernen als einfache einstimmige C-Dur-Melodien.
Die »Aktion Bontempis in Not« hat sich dieser Vergessenen angenommen, rettet sie vor Schredder und Müllofen, unterhält Rehabilitationseinrichtungen, in denen versucht wird, das Versäumte nachzuholen - obwohl aus einer eingestaubten, nach 30 Jahren mit knapper Not wiederbelebten Magnus natürlich keine Hammond B-3 mehr wird.
Aber auch viele Orgeln, die die Gefahren von Kindheit und Pubertät überstanden haben und mit 12, 14 oder 16 Jahren endlich zwei richtige Manuale, Basspedal und 220-Volt-Tauglichkeit besitzen, führen zumeist ein unscheinbares und intellektuell wenig anregendes Leben in gutbürgerlichen Wohnzimmern oder auch Musikschulen... klein ist die Zahl jener Orgeln, die als gefeierte Kultinstrumente mit den größten Organisten der Welt von Konzert zu Konzert reisen, tiefen Einblick in die subtilsten harmonischen Zusammenhänge entwickeln und sogar selbst zu komponieren beginnen... Lieschen Müllers dreichörige GEM kennt diese höheren Sphären allenfalls vom Hörensagen, wenn sie an langweiligen Nachmittagen einmal ins Stromnetz hineinlauscht, wo sich Orgeln von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent mittels elektronischer Fernsprache austauschen...
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