Religionsfreiheit und staatliche Neutralität
Von Reinhard Müller
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24. September 2003
Die Religion und der Staat - eine Reihe von Entscheidungen gibt es zu diesem Spannungsfeld. Mit dem Kopftuch-Urteil, das der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts an diesem Mittwoch verkündet, wird ein weiteres Zeichen gesetzt.
Nach dem Streit über das Schächten von Tieren aus Glaubensgründen und die Zulässigkeit von Kruzifixen in Klassenzimmern mußten sich die Karlsruher Richter mit dem Fall einer angehenden muslimischen Lehrerin befassen. Nachdem sie die Lehramtsprüfung für Deutsch und Englisch abgelegt hatte, bewarb sie sich für den baden-württembergischen Schuldienst. Das Land lehnte das ab, da Frau Ludin darauf bestand, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. An ihrer sonstigen Eignung bestand kein Zweifel. Es gab offenbar auch keine Beschwerden von Kindern oder Eltern. Gleichwohl unterlag sie in allen Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit: Schüler und Eltern könnten verlangen, daß sich der Staat in religiösen Fragen neutral verhalte. Diese Pflicht werde verletzt, wenn eine Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch trage.
Wessen Religionsfreiheit?
Auf die Religionsfreiheit berief sich in Karlsruhe nicht nur die Beschwerdeführerin Ludin, sondern auch das Land Baden-Württemberg: Dadurch, daß Frau Ludin ihr Grundrecht in der Schule durchsetze, verletze sie die Religionsfreiheit ihrer Schüler. Tatsächlich hat dieses Recht im Grundgesetz einen besonderen Rang. »Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich«. Weiterhin wird die »ungestörte Religionsausübung« gewährleistet. Anders als bei anderen Grundrechten fehlt es an einem Gesetzesvorbehalt, der dem Gesetzgeber Einschränkungen ermöglicht. Die Religionsfreiheit findet ihre Grenzen demnach nur in anderen Werten von Verfassungsrang.
Die große Bedeutung, die insbesondere das Verfassungsgericht der Religionsfreiheit beimißt (unmittelbarer Ausfluß der Menschenwürde) zeigte sich etwa im Urteil zum Schächten, also dem Schlachten von Tieren ohne Betäubung. Einstimmig hielt der Erste Senat das Tierschutzgesetz für verfassungskonform. Für den muslimischen Metzger gehe es zwar in erster Linie um seine Berufsfreiheit. Da aber auch Glaubensvorschriften im Spiel seien, müsse auch die Religionsfreiheit beachtet werden. Lasse man keine Ausnahme vom Schächtverbot zu, so würden die Grundrechte der betroffenen Muslime in unzumutbarer Weise beschränkt, und die Belange des Tierschutzes erhielten »ohne zureichende verfassungsrechtliche Rechtfertigung« einseitig Vorrang. Der Tierschutzbund forderte umgehend die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung. Mit dieser Entscheidung blieb das Verfassungsgericht auf seiner Linie, in Glaubens- und Weltanschauungsfragen auf die Sicht des einzelnen abzustellen. Grundrechtsschutz ist demnach vor allem Minderheitenschutz.
Ausweichmöglichkeit vor religiösen Symbolen
Das zeigte sich auch in der Kruzifix-Entscheidung des Ersten Senats. Danach können Kreuze in Klassenzimmern gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Schüler und das Erziehungsrecht der Eltern verstoßen. Mit den Stimmen der Mehrheit des Senats (Fünf gegen drei) wurde der entsprechende Passus der bayerischen Schulordnung für nichtig erklärt. Eltern hatten geltend gemacht, daß durch Kruzifixe »im Sinne des Christentums auf ihre Kinder eingewirkt« werde, was ihrer anthroposophischen Weltanschauung zuwiderlaufe. Das Gericht gab ihnen recht: Der Staat müsse in Glaubensfragen Neutralität wahren. Dazu passe es nicht, wenn die Schüler von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit dem Kreuz konfrontiert würden. Anders sei es bei einem »flüchtigen Zusammentreffen«, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Gebäuden. Die Senatsminderheit wertete das Kreuz als Sinnbild für die Werte der abendländischen Kultur; nichtchristliche Schüler und ihre Eltern hätten es wegen des Toleranzgebots hinzunehmen.
Mit dem Kopftuch hatte sich das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich befaßt, allerdings aufgrund einer arbeitsrechtlichen Streitigkeit: Einer muslimischen Verkäuferin war gekündigt worden, weil sie während der Arbeit nicht auf das Tragen eines Kopftuches verzichten wollte. Die in der Türkei geborene Frau hatte nach ihrem zweiten Erziehungsurlaub und zehnjähriger Tätigkeit ohne Kopftuch verkündet, sie könne sich nicht mehr ohne Kopftuch zeigen, da sich ihre religiösen Vorstellungen gewandelt hätten. Der Arbeitgeber war dagegen der Ansicht, das Verkaufspersonal sei gehalten, sich dem Stil des Hauses entsprechend unauffällig zu kleiden. Insbesondere in der Parfümabteilung sei eine Verkäuferin mit Kopftuch nicht tragbar. Das Unternehmen, im hessischen Schlüchtern ansässig, befürchtete negative Reaktionen der Kunden und Umsatzeinbußen. Es hielt eine Weiterbeschäftigung für ausgeschlossen und kündigte der Muslimin. Dagegen klagte die Verkäuferin bis zum Bundesarbeitsgericht erfolgreich: Sie sei in der Lage, ihre vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erfüllen. Sie könne auch außerhalb der Parfümabteilung beschäftigt werden. Zwar sei auch die Unternehmerfreiheit des Kaufhausbetreibers zu beachten. Doch habe dieser nicht konkret vorgetragen, inwieweit sein Grundrecht beeinträchtigt sei. Das sei angesichts des hohen Stellenwerts der Glaubensfreiheit der Verkäuferin aber erforderlich. Diese Argumentation hält die 2. Kammer des Ersten Senats des Verfassungsgerichts für nicht zu beanstanden: Der Kaufhausbetreiber habe betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Nachteile nicht plausibel dargelegt. Die Glaubensfreiheit der Arbeitnehmerin dürfe nicht auf einen bloßen Verdacht hin »beiseite gestellt« werden.
Demgegenüber geht es im Fall Ludin nicht ein arbeitsrechtliches Verhältnis zwischen Privaten, sondern um die Übernahme in das Beamtenverhältnis. Der Vertreter des Landes Baden-Württemberg trug in Karlsruhe vor, das Kopftuch trage in diesem Fall gleichsam der Staat. An diesem Mittwoch entscheidet nicht der Erste, sondern der Zweite Senat. Doch dürfte - wie bei den früheren Entscheidungen zur Religionsfreiheit - innerhalb und außerhalb des Senats für Aufregung gesorgt sein.
Text: FrankfurterAllgemeineZeitung, kurz FAZ, am 24. September 2003
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