Narbengesicht
Willkommen, mein Freund. Trete näher. Wer ich bin? Man nennt mich Narbengesicht. Der Schatten täuscht dich nicht, wenn du keine Narben in meinem Gesicht findest. Meine Narben verblassen schnell. Ich heiße so, weil ich keine von ihnen vergesse, weil ich sie liebe - und weil sie mit jeder neuen Narbe erneut erscheinen. Du hast mich in einer glücklichen Stimmung abgefangen, mein Freund. Deswegen bin ich unversehrt.
Du wunderst dich über den Ausdruck »unversehrt«; wegen dem gerade erst verschorften Schnitt, der quer über mein Gesicht verläuft? Das ist nichts, mein Freund. Dieser Schnitt entstand nicht durch Schmerz. Ihn habe ich mir selbst beigefügt. Meine Wut und mein verletzter Stolz sind daran Schuld. Vor allem mein verletzter Stolz.
Diese Wunde ist innerhalb weniger Wochen zugeheilt. Weißt du, mein Freund, ich bin umgeben von Heilern, da bleibt keine Wunde lange bestehen. Vielleicht habe ich auch gute Selbstheilungskräfte, der Grund kümmert mich nicht.
Ich bin glücklich über diese Wunde, die schon fast eine Narbe und halb verblasst ist. Denn sie erinnert mich daran, wie viel Gutes mir ihr Anlass gebracht hat.
Weshalb ich dich nähertreten ließ, mein Freund, ist die Tatsache, dass mein verletzter Stolz die Finger nicht von dieser Wunde lassen kann. Wenn ich nicht auf ihn achte, stiehlt er sich herbei und kratzt ein wenig von dem Schorf ab, so dass ein wenig Blut nachsickert.
In den letzten Tagen kam er öfter als sonst und dich wollte ich fragen, mein Freund, warum er das macht. Nun, es könnte deswegen sein, weil du mir den Grund für meinen verletzten Stolz unter die Nase reiben willst. Und ich habe dich herbeigerufen, um zu erfahren, ob nicht du vielleicht weißt, warum ich verdammt noch mal jede emotionale Herausforderung annehmen muss?
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