Frau R. war Mathematiklehrerin und gerade geschieden. Infolgedessen war Frau R. derzeit nicht besonders glücklich. Der morgentliche Gang in ihre Klassen war für sie ein Weg in die Hölle. Von kleinem Wuchs und von Natur aus zierlich und mit schwacher, etwas unklarer und damit dem Mathematischen ganz und gar abträglichen Stimme, wurde sie bald zu einem Opfer des alltäglichen Rabaukentums. Erfolglos sagte sie »Bitte...« und sprach, nur um weiterzumachen, in eine desinteressierte Geräuschkulisse hinein. Der einzig angemessene Schlag mit der Faust auf den Tisch lag ihr nicht. Eines Tages stach sie mit Wortgift in den respektlosen Haufen hinein: einem besonders unruhigen Schüler rief sie mit plötzlich unerwartet lauter Stimme und kaltem Ernst zu, er sei gestört und habe seine Motorik nicht unter Kontrolle. Die Klasse wurde ruhig und die Worte machten die Runde bis ins Lehrerkollegium. Sie wurde ermahnt und gescholten, sie müsse den Bewegungs- und Rededrang ihrer Schüler auf andere Weise in den Griff bekommen, es ginge nicht, dies einfach als eine unheilbare Krankheit der Seele beiseite zu schieben. Ein Lehrer sah das anders und dachte sich, Frau R. habe keine andere Waffe gegen einen großen Feind und beschloss, eine Rede an ihre gegnerischen Schüler zu halten, indem er ausführte, Frau R. sei nicht nur Mathematiklehrerin, sondern auch ein Mensch mit bestimmten Schwierigkeiten, die er genauer auseinandersetzte und die man in seinem Verhalten ihr gegenüber in Betracht zu ziehen habe. Ob diese Rede einen insgesamt durchschlagenden Erfolg hatte, ist nicht mehr bekannt, jedoch verfehlte sie bei einem Schüler nicht ihre Wirkung, der ein einigermaßen ruhiger Zuhörer mit kontrollierter Motorik wurde.
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