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Christine schrieb am 9.10. 2020 um 21:36:33 Uhr über

Moderhinke

Die Hebamme hatte denselben Familiennamen wie der Verlobte der Verstorbenen auf der chirurgischen Wachstation. Bis jetzt dachte ich, sie hatte mich nur vergessen. Aber offensichtlich hat sie mich außerdem verwechselt. Scheißreiki überall. Ich konnte irgendwann den Namen Gärtner nicht mehr hören ohne an dessen Verzweiflung zu denken. Er war so mies drauf, als ob er und nicht die Anästhesieklinik die Prämedikationsdosis selbst bilanziert hatte. Im Gegensatz zu mir Gradebennochabiturientgewesenen saß er in der Stationszentrale mit sämtlichen Mäusekinos, hatte bereits die Examina hinter sich, aber offensichtlich noch die praktische Erfahrung, die nötig gewesen wäre, ihre konkreten situativen Risiken abschätzen zu können. Die Übergabe erfolgte entsprechend sorglos. Wodurch sich dann die Lücke ergab? Ein Notfall oder was ihren Atemstillstand überhaupt verursachte, weiß wahrscheinlich nicht mal der, der Gärtner dann erklären musste, was da passiert sein könnte. Es war einfach zu alltäglich geworden, dass sie operiert wird. Jeder erinnerte sich an das letzte Mal, statt genau hinzuschauen, wie das Hier und Jetzt sich anfühlte. Das ist die Arroganz am Fließband, bei der du glaubst genug Zeitgefühl zu entwickeln und dir dein Multitasking zu entschuldigen versuchst. Wenn mir eins klar war, dann dass ich nie Anästhesist werden wollte. Spontanatemtiefe ohne Monitor zu kalkulieren ist wie Pokern. Du hängst an den Lippen und weißt, dass das, was du siehst, mindestens 30 Sekunden her ist. Die Zyanose setzt verdammt spät ein. Kindernarkosen mündeten damals zwangsläufig in Alkoholismus. Anders hielten die die Anspannung ohne EKG und kontinuierliche Gasanalyse gar nicht aus. Du hattest nur Schweiß und Lidrandreflex, wenn du zu flach fuhrst, konntest aller fünf Minuten messen und fuhrst das Intervall blind. Du ahnst nicht, wie verdammt lang fünf Minuten sein können, in denen du nur die Maske hältst und schreibst, während die anderen irgendwas machen, was du selbst noch nie gemacht hast und nur vom Beobachten her kennst. Dann trotzdem abzuschätzen wie die drauf waren, band zusätzlich Energie, die abends für die eigene Familie aufgebraucht war. Im Kreißsaal stellte mir die Gärtner dann den Wehentropf an und ging. Ich hatte ihr vertraut, bis ich ihre Angst sah: Ich hatte das Tempo herausgenommen, indem ich den Tropf stoppte. Was ihr eigentlicher Plan war, werde ich wohl nie erfahren. Wahrscheinlich den Kaffee eben schnell noch zu Ende zu trinken, die Göttergleiche. Danach war ich kaum noch im Kreißsaal, mir kam jedesmal sofort das große Kotzen, wenn ich sie sah. Glücklicherweise fanden sich andere Sectiogeile. Die Rhien stand bei jedem mit der Stoppuhr daneben. Wer hält das schon ein Leben lang aus. Noch Jahre danach bettelte ich jeden auch nur Tage Älteren, abzuschätzen, welche Dosis er an meiner Stelle in diesem Moment geben würde, damit die Übergabe auch bei plötzlicher Hubschrauberinvasion entschleunigt machbar ist. Das Vorspiel, der Film gestern, erinnerte mich dran. Bis dahin wusste ich gar nicht, wie eng ein Orchester ist.


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