Kleist: Bernd Heinrich Wilhelm v. K. wurde zu Frankfurt a. O. geboren, nicht am 10. October 1776, wie man bis zu seiner irrthümlich am 10. October 1876 begangenen Säcularfeier, gestützt auf Tieck’s Vorrede zu Kleist’s Werken (1826) annahm, sondern nach dem von K. Siegen aus dem Frankfurter Garnisonskirchenbuch veröffentlichten Taufschein, am 18. October 1777. Sein Vater, der Kapitän im Leopold von Braunschweigischen Regimente, Joachim Friedrich v. K., war damals bereits 50 Jahre alt. Von seiner ersten Gemahlin, Karoline Louise v. Wulffen, die 19jährig starb, hatte er zwei Töchter, Wilhelmine und Ulrike. Von der zweiten Gattin Juliane Ulrike v. Pannewitz wurden ihm fünf Kinder geboren, von denen Heinrich das dritte war. Der Knabe erhielt seine Erziehung in dem in der Oderstraße gelegenen elterlichen Hause, welches von der aufopferungsvollen Halbschwester Ulrike bis zu ihrem am 1. Februar 1849 erfolgten Tode bewohnt wurde und nunmehr in den Besitz der Post übergegangen ist. In Gesellschaft eines Vetters wurde er von einem Studenten der Theologie unterrichtet, der insofern einen schwierigen Stand hatte, als K., den er einen nicht zu dämpfenden Feuergeist nannte, im Besitze einer überraschend schnellen Fassungsgabe war, während der Genosse, trotz aller Anstrengung, mit ihm nicht Schritt halten konnte. So fiel Letzterer denn auch frühzeitig in Schwermuth und nachdem er Zögling der Militärakademie und Offizier geworden war, nahm er sich das Leben. Erheiternd mag ein solcher Gespiele schwerlich auf K. gewirkt haben; beider Naturen begegneten sich vielmehr in frühem Trübsinn und erwachsen von einander getrennt, sollen sie einmal schriftlich übereingekommen [128] sein, freiwillig aus diesem Leben zu scheiden. Von dem Charakter des 1788 verstorbenen Vaters wissen wir bisher nichts; eine knappe Bemerkung in einem Briefchen Kleist’s an Rühle von Lilienstern vom J. 1806 scheint anzudeuten, daß die (1793 gestorbene) Mutter weichen Herzens war und daß er diese Eigenschaft von ihr geerbt hat. Mit dieser Gefühlsrichtung stimmt überein, daß K. ein bedeutendes musikalisches Talent entwickelte, so daß er, Tieck’s Ueberlieferung zur Folge, ohne die Noten zu kennen, sogar mehrere Instrumente vortrefflich zu spielen verstand. In seinem zehnten Jahre kam er zu dem Prediger Catel nach Berlin und, wie Tieck erzählt, etwa 15 Jahre alt als Junker zur Garde. Dies stimmt mit Wilbrandt’s Annahme, nach welcher K. im J. 1792 Soldat wurde, genau überein. Eduard v. Bülow’s Angabe, daß er im J. 1795 als vierter Fähndrich in das Garderegiment zu Fuß in Potsdam eingetreten sei, ist hingegen nicht genau, denn aus dem ersten Briefe Kleist’s an Ulrike, der auf dem Regimentsmarsche nach dem Rhein, von Eschborn im Nassau’schen am 25. Februar 1795 geschrieben ist, geht hervor, daß er erst von Westphalen die Nachricht von seiner Beförderung zum Offizier abschicken zu können glaubte. Daß mit dieser Beförderung doch nur die Fähndrichsstufe gemeint sein kann, erhellt daraus, daß K. in der Rangliste von 1796 als vierter Fähndrich im Regiment Garde zu Fuß in Potsdam eingeschrieben ist. Würde der Frieden dem Rheinfeldzuge nicht ein Ende gemacht haben und wäre K. zu wirklichen Kriegsdiensten gekommen, so hätte dies vielleicht seine ganze Zukunft beeinflußt; aber von Natur dem Soldatenstande wenig geneigt, wurde ihm in Potsdam der bloße Garnisondienst geradezu widerwärtig. Ein unwiderstehlicher Drang nach Wissen und innerer Bildung, nach freiem geistigen Leben, bemächtigte sich seiner; er ließ sich von dem Conrector Bauer unterrichten und studirte in Gesellschaft eines jüngeren Kameraden, außer den alten Sprachen, besonders Philosophie und mathematische Wissenschaften. In diese Zeit des Potsdamer Aufenthaltes fällt das erste uns bekannte Liebesverhältniß Kleist’s mit einem Mädchen aus adligem Geschlecht. Das Scheitern desselben machte ihn schwermüthig und menschenscheu, er vertiefte sich desto mehr in seine Studien und verwendete auf seine äußere Erscheinung nicht mehr die frühere Sorgfalt. Als er zuletzt durch eigenes Denken Probleme erfaßte, welche der Lehrer ihm nicht hatte anschaulich machen können, stand sein Entschluß das Heer zu verlassen und sich ganz den Wissenschaften zu widmen, fest und er reiste nach seiner Geburtsstadt, wo sich damals eine Universität befand, um dort das Nöthige vorzubereiten. Hier hatte seit dem Tode der Mutter deren Schwester, die Ordnung und Ruhe liebende Frau v. Massow, die Wirthschaft übernommen. Die Familie, in welcher der Soldatenstand sich als eine Ueberlieferung fortgeerbt hatte und sein Vormund, ja sein Jugendlehrer, der inzwischen in Frankfurt Geistlicher geworden war, erklärten sich sämmtlich gegen sein Vorhaben, während Ulrike allein eine billigere Auffassung der geistigen Bedürfnisse des Bruders gehabt zu haben scheint. Die in Eduard v. Bülow’s „H. v. Kleist’s Leben und Briefe“ mitgetheilten Schreiben an den Lehrer vom 18. und 19. März 1799 sind maßgebend für die Kenntniß jener Lebenskämpfe. Zunächst verdient hervorgehoben zu werden, daß es einer edlen und tiefen Natur durchaus entspricht, wenn K. in dem ersten dieser Schreiben das ihn allgemein Bestimmende, Ideale und erst in dem zweiten das, was sich auf seine damalige besondere Lage bezieht, entwickelt; wie denn überhaupt in den meisten seiner Briefe aus jener Zeit sich das idealistische Streben wiederspiegelt, welches durch die größten Geister unserer Kunst und Wissenschaft in die Lebensluft der Nation eingedrungen war. Seiner Vernunft nach hatte der 22jährige alle Elemente zum reinsten Glücke in sich; unserer Theilnahme desto werther entwickelt sich aber sein Geschick von dem Augenblicke an, wo die ungemessensten Anstrengungen nach Vervollkommnung und später nach Anerkennung bei ihm zu wahren Leidenschaften heranwachsen und ihn zum Erleben jenes Glückes unfähig machen. Den zweiten Brief nennt K. selbst eine getreue Darstellung seines ganzen Wesens und hofft, daß er den geliebten Lehrer nicht ungerührt lassen wird. „Der Soldatenstand, dem ich nie von Herzen zugethan gewesen bin, weil er etwas durchaus Ungleichartiges mit meinem ganzen Wesen in sich trägt, wurde mir so verhaßt, daß es mir nach und nach lästig wurde zu seinem Zwecke mitwirken zu müssen. Die größten Wunder militärischer Disciplin, die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerciermeister, die Soldaten für so viele Sclaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Instrument der Tyrannei. Dazu kam noch, daß ich den üblen Eindruck, den meine Lage auf meinen Charakter machte, lebhaft zu fühlen anfing. Ich war oft gezwungen zu strafen, wo ich gerne verziehen hätte, oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen und in beiden Fällen hielt ich mich selbst für strafbar. In solchen Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir entstehen einen Stand zu verlassen, in welchem ich von zwei durchaus entgegengesetzten Principien unaufhörlich gemartert wurde, immer zweifelhaft war ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte, denn die Pflichten beider zu vereinen halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich. Und doch hielt ich meine moralische Ausbildung für eine meiner heiligsten Pflichten, eben weil sie, wie ich eben gezeigt habe, mein Glück gründen sollte und so knüpft sich an meine natürliche Abneigung gegen den Soldatenstand noch die Pflicht ihn zu verlassen.“ K. stellt nun dar, welche Einwürfe ihm im Kreise seiner Familie gemacht worden sind, aber alle diese Ermahnungen trafen seinen Entschluß nicht. „Nicht aus Unzufriedenheit mit meiner besseren Lage, nicht aus Mangel an Brot, nicht aus Speculation auf Brot, sondern aus Neigung zu den Wissenschaften, aus dem eifrigen Bestreben nach einer Bildung, welche nach meiner Ueberzeugung in dem Militärdienste nicht zu erlangen ist, verlasse ich denselben.“ Was sich in diesen Geständnissen abspiegelt, ist nicht blos die eigenthümliche Artung eines philosophisch und poetisch angelegten Jünglings, sondern auch der Wendepunkt der beiden Jahrhunderte, und merkwürdig genug bleibt es, daß der kurz darauf eingetretene Sieg der rohen Gewalt über den Humanismus der Revolution wesentlich zum Untergange Kleist’s beigetragen hat. General Rüchel hatte in Potsdam dem wissenschaftlichen und freidenkerischen Treiben Kleist’s längst mit Unwillen zugesehen; als dieser jedoch um seinen Abschied anhielt, redete er ihm ins Herz und der König soll sogar geneigt gewesen sein, dem Wissensdurstigen Urlaub auf unbestimmte Zeit zu gewähren, damit er nach seiner Studienzeit wieder beim Regimente eintreten könne.
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