Ich erinnere mich nicht mehr genau an meine erste Begegnung mit Matthias. Ich war damals zwölf Jahre alt und ganz neu dabei. Wahrscheinlich ist er mir am ersten Abend gar nicht aufgefallen - es war alles noch so unbekannt - so viele fremde Leute und ich war die Jüngste.
Ich weiß nur noch, dass er mir irgendwann wegen seines Humors aufgefallen ist.
Erst zwei Jahre später hatte ich mehr mit ihm zu tun, weil ich neben ihn gesetzt wurde.
Ich stellte bald fest, dass er einer der wenigen Erwachsenen war, die mich wirklich ernst nahmen und mir zuhörten. Ich liebte ihn dafür - es war jedesmal wie nach Hause kommen. Das war das, was ich an meinen Eltern am meisten vermisste, ohne es zu wissen.
Es ging ziemlich schnell und er war aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Jede Woche fieberte ich auf diesen einen Tag hin, an dem ich ihn sehen konnte und es war viele Wochen eine herbe Enttäuschung, wenn er wegen seiner Arbeit nicht da war.
Nach einiger Zeit entwickelte ich ein Gespür dafür, ob er kommen würde, oder nicht. Das Gefühl in meinem Bauch veränderte sich, wenn er kam. Er kam aber viel zu selten. Je länger diese Phase andauerte, desto feiner und exakter wurde mein Gespür. Bald konnte ich seinen Geruch schon im Treppenhaus wahrnehmen. Ich bin jedesmal geplatzt vor Freude, wenn ich dann die Tür öffnete und er da war. - Ich hab ihm davon nie erzählt. Die Sehnsucht nach ihm, in den Wochen, wenn er nicht da war. Wie ich von ihm geträumt habe, bei meinem Spaziergängen und ihn herbeigesehnt. Wie ich versucht habe, seinen Geruch und seine Stimme abzurufen - jedes Detail unserer letzten Begegnung durchgegangen bin. Wie ich von einer gemeinsamen Zukunft geträumt habe. - Nie habe ich darüber ein Wort verloren, auch in den späteren Jahren nicht.
Auch meine Vorfreude auf die zusätzlichen Veranstaltungen habe ich verschwiegen. Was war das für ein Hochgefühl, wenn ich ihn sogar zwei- oder dreimal in einer Woche sehen konnte - aber auch was für ein Schmerz, wenn er dann doch nicht kam.
So ging das mehrere Jahre und ich wurde älter, hatte meine erste Beziehung und schließlich meine erste Trennung. Nichtsdestotrotz ist er immer der wichtigste Mensch in meinem Leben geblieben.
Und dann war ich 18 und frisch getrennt. Ich weiß noch, wie er mich nach einer Feier zum Abschied das erste Mal in den Arm nahm - es war der Himmel auf Erden. Von da an haben wir uns regelmäßig so begrüßt und verabschiedet.
Und eines Abends sind wir danach noch ein Bier trinken gegangen - auch das wurde uns fortan zur Gewohnheit. Er musste nicht mehr so häufig geschäftlich weg, sodass wir uns regelmäßig sehen konnten. Mit dem Unterschied, dass das Biertrinken danach das neue Highlight der Woche war. Wir haben viel geredet, über Beziehungen, Männer und Frauen, über meine und auch seine geglückten und gescheiterten Beziehungen.
Irgendwann begannen wir, uns unter der Woche zu schreiben - was für ein Glücksgefühl, wenn eine Nachricht von ihm kam!
Nach einem unser gemeinsamen Bierabende - wir waren beide schon leicht angetrunken - folgte dann ein Kuss auf dem Heimweg. Nie werde ich diesen Moment vergessen. Ich war wohl mit Abstand die glücklichste Frau auf der Erde.
Erst zwei Tage später folgte das bittere Erwachen. Doch da war es schon zu spät. Ich konnte schon nicht mehr zurück, er auch nicht. Und so lebten wir unsere Liebe heimlich - jede Woche nach dem Biertrinken. Manchmal gingen wir auch kein Bier trinken, sondern fuhren in der Gegend rum, bis wir einen einsamen Parkplatz gefunden hatten. Oft waren wir sehr unvernünftig und leichtsinnig und es gab mehr als einen Moment, wo es beinahe aufgeflogen wäre.
Ein halbes Jahr später zog ich weg und nach einem weiteren halben Jahr beendete ich die Sache ganz.
Viel Zeit ist seitdem vergangen und andere Männer kamen nach ihm in mein Leben. Für mich war es abgeschlossen, wie andere Beziehungen auch. - Bis er plötzlich wieder da stand, und mich anlächelte mit seinem unvergleichlichem Lächeln, mir die Wange streichelte und mich in den Arm nahm. - Da war es als ob nicht eine Minute seitdem vergangen wäre und diese große Liebe war wieder da. Und mit der Liebe auch die Sehnsucht, und mit der Sehnsucht auch der Schmerz.
Und jetzt leide ich wieder Höllenqualen, weil ich Sehnsucht habe, die ich nicht zeigen darf und Gefühle, die ich nicht haben darf.
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Matthias, Du fehlst mir so.
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