Mein Name ist Matthias Schmidt. Ich wohne in 65396 Oberwalluf in einer Zweizimmerwohnung mit Bad ohne Balkon über der Ortsfeuerwehr. Dort wurde ich vom sozialpsychiatrischen Dienst eingewiesen nach mehrmonatiger Obdachlosigkeit.
Zur Zeit befinde ich mich bei Verwandten in München wo ich auf eine Darm-OP warte.
Ich wohne nun seit zehn Jahren in Oberwalluf ohne Telefon und ohne Postbriefkasten, weil ich mich nicht darum gekümmert habe und weil offizielle Post mir noch immer Angst macht.
Meine psychotische Erkrankung begann 1989 kurz vor dem Mauerfall in Zusammenhang mit Drogenkonsum.
Mein Vater starb am 4. September 1989 in Frankreich auf einer Urlaubsreise in dem kleinen Ort namens Corps nach einem Abendmahl. Er lief blau an, sagte, ich atme Luft, bekomme aber keine Luft und erstickte im Hotelbett. Mutter flüchtete nach unten zur Rezeption und als sie wieder hochkam war er tot.
Ich spekulierte einen unnatürlichen Tod (Essensvergiftung durch den Wirt für den ungeliebten Deutschen der fröhlich zechte) und wollte eine Obduktion. Mein Vater war in Walluf sehr bekannt und für die deutsch-französische Verschwisterung zuständig (deren Alterspräsident). Wie gesagt, er hatte zwei Jahre zu Kriegsende als siebzehnjähriger junger Mann der gerade beide Eltern durch einen amerikanischen Bombenabwurf auf einen Personenzug verloren hatte, diese französische Ersatzfamilie gefunden die ihn wie einen Sohn behandelten. Es waren einfache religiöse Melonenbauern zu denen er bis zu seinem Tod regelmäßigen mindestens jährlichen Kontakt pflegte (Briefe und jährlichen Besuch) und ich hatte als junger Student 1980 eine Enkeltochter aus genau jener Familie geheiratet. Die Ehe ging eben auch just zum Zeitpunkt des Todes meines Vaters auseinander, unter dramatischen Umständen, ich sei verrückt und solle mich ihr nie mehr nähern.
Das ganze Dorf hielt mich für verrückt ebenso der Rest meiner Familie nur weil ich Geschichten über eine mögliche Beteiligung Vaters an geheimen Verpflichtungserklärungen gegenüber den alliierten Behörden nach dem Krieg zusammenphantasierte. Und weil ich ihnen vorwarf ihn einfach ohne Obduktion verbuddelt zu haben. Es ging sogar soweit, das ich eine Graböffnung wollte weil ich später vermutete er läge dort nicht drin, man habe ihn mit einem Gift in eine
Todesstarre versetzt und für politische Zwecke entführt, ich sah ihn dann in allen möglichen Fernsehbildern wieder, abgemagert, als Präsident des deutsch-französischen Jugendwerks etwa, oder er begegnete mir als gebrechlicher alter Mann irgendwo in Wiesbaden auf der Straße. Ich weis, es spricht nicht für meine klare geistige Verfassung wenn ich so manchen alten Mann lange angestarrt habe, ihn eine Zeit verfolgt habe um zu sehen wohin er geht, ich bin fast gestorben vor schlechtem Gewissen, ihn nun hier, aus der Alliiertenhaft entlassen, wahrscheinlich mit Pharmaka entpersönlicht, in der Stadt alleine zu lassen und wieder in meine Hütte wohnen und leben zu fahren.
Ich merke, ich bekomme die gesamte Geschichte immer noch nicht so ganz souverän auf die Reihe.
Jedenfalls, in diesem Dorf in dem ich wohne bin ich ziemlich isoliert seit dieser Geschichte.
Sie haben sogar einen Kiesplatz in der Nähe des Rheinufers nach meinem Vater benannt ganz kurz nach seinem Tod. Dort treffen sie sich zum Boulespiel und bemängeln manchmal ich käme nicht mit, ich würde mich ja selbst isolieren, ich kann bei dieser Mannschaft nicht mitmachen, wie sie lachen und ihren Rotwein dazu trinken und nie über Verrücktheiten oder auch nicht reden wollen, in mir nagt das manchmal noch immer.
Marcel sagt, ich muß mir einen gesunden Sarkasmus zulegen was die nun beginnenden Schwächen des Alterns betrifft.
Ich konnte nur mit Inge über all das reden, und nun redet auch sie seit nun dreieinhalb Jahren nicht mehr mit mir. Sie war die Einzige die meine Version der Dinge wenigstens nicht kategorisch verwarf.
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