Natürliche MängelPsychedelischer Krimi von Pynchon
Bild vergrößernParadies der unbegrenzten Möglichkeiten. Freunde des Surfens im Kalifornien der späten sechziger Jahre. Foto: laif - Foto: /laifGras und Spaß: Thomas Pynchon besingt in »Natürliche Mängel« die sechziger und siebziger Jahre.
Selbstverständlich beginnt alles damit, dass eine attraktive Klientin aus dem Nichts auftaucht. Dass es sich in diesem speziellen Fall um die Exfreundin des Privatdetektivs handelt, macht die Sache nur delikater. Die Situation ist dennoch – vorerst – klassisch: Schöne Frau hat ein Problem; der abgekochte Ermittler kann vielleicht helfen. Doch da wird es schon absurd: Privatdetektiv Lawrence Larry „Doc“ Sportello ist nicht einfach nur der von Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Co. bekannte einsame Wolf mit der harten Schale und dem sentimentalen Kern – er ist vielmehr so dauerhaft zugedröhnt, dass er zumeist selbst gar nicht weiß, wo sein Kern sich überhaupt befindet. Nicht hardboiled, sondern sanft tiefenentspannt.
Nur drei Jahre nach seinem opulenten Opus Magnum (eines von vielen) „Against the Day“ hat Thomas Pynchon, der berühmteste Unbekannte der Gegenwartsweltliteratur, einen so überraschenden wie komplett abgefahrenen psychedelischen Krimi vorgelegt. Willkommen im Jahr 1970! Willkommen an den Stränden Kaliforniens! Willkommen in einem Dauertrip von monströsen Ausmaßen! Dazu rauscht das Meer und jaulen die Surfgitarren. Da reimt sich Gras noch ganz unschuldig auf Spaß. Nicht nur, dass es dem Buch nicht gerecht werden würde, es ist auch schlicht und einfach unmöglich, die wirre Handlung nachzuerzählen.
Doc Sportellos Ermittlungsarbeit folgt einer halluzinogenen Logik, die selbst im Zustand der vollkommenen Bekifftheit nicht zu durchschauen wäre. Kaum eine Seite in „Natürliche Mängel“, auf der nicht irgendwer einen Joint rausholt oder anbietet oder anzündet oder sucht oder gerade findet. Wer soll da noch den Überblick behalten? Eben deswegen ist der neue Pynchon bei aller Leichtigkeit ein klassischer Pynchon. Ein Buch, das ungeheuren Spaß macht, weil man ihm den Spaß anmerkt, den der Autor beim Schreiben gehabt haben muss. Horror- und Splatterfilme, die Surfkultur der sechziger Jahre, reale und frei erfundene Musikstücke: alles hinein in den Wahrnehmungsmixer. Hinzu kommt, versteht sich, eine nicht geringe Dosis von verschwörungstheoretischer Verschwurbelung, dem Basso continuo des Pynchon’schen Schreibens überhaupt.
Es tauchen unter anderem auf, beziehungsweise verschwinden unter mysteriösen Umständen: Mickey Wolfmann, ein Bauunternehmer, der vom Geschäftsmann zum Hippie geworden scheint, weswegen das FBI sich für ihn zu interessieren beginnt; ein heroinabhängiger Saxophonist, der sich nur scheinbar den goldenen Schuss gesetzt hat, in Wahrheit aber in wechselnder Aufmachung als Agent einer Organisation namens „Kalifornien Erwache!“ tätig gewesen sein könnte; der schwedische Detective Bigfoot Bjornsen, der Doc Sportello als Köder benutzt (aber für wen oder was?), und ein Syndikat mit dem Namen „Goldener Fang“, dem in erster Linie Zahnärzte angehören. Ganz zu schweigen von einem arischen Schlägertrupp, von Mickey Wolfmann („Deutsche Westside-Mafia, strenggenommen Jude, möchte aber ein Nazi sein“) als Leibwächter angeheuert. All das steht zu keinem Zeitpunkt unter Realismusverdacht; es sind Montagen von Zitaten, Klischees, popkulturellen Versatzstücken und nostalgisch angehauchten Erinnerungsverklärungen, die Pynchon zu einem grellbunten Szenario verdichtet.
Hinter dieser Retrospektive verbirgt sich aber auch der tiefere Ernst von „Natürliche Mängel“: Eine Epoche der Unschuld neigt sich ihrem Ende zu; ein Jahrzehnt der berauschten Sorglosigkeit verwandelt sich in ein manchmal tödliches Gemenge aus Interessenlagen, Überwachung, Paranoia und Infiltration.
Nicht ohne Grund geistert der Oberbösewicht Richard Nixon durch die Seiten des Romans. „Hier“, so heißt es in einer sinistren, nächtlichen Passage, „war Doc, stocknüchtern, und dachte mit leisem Horror, aus dem er einfach nicht herausfand, darüber nach, dass die Psychedelischen Sechziger, diese kleine Parenthese aus Licht, ja vielleicht doch zu Ende und komplett verschütt gingen, in Dunkelheit zurückgeholt wurden... dass eine bestimmte Hand unbarmherzig aus der Dunkelheit greifen und die Zeit wieder an sich nehmen könnte, und das ebenso mühelos, wie man einem Kiffer den Joint abnimmt und ihn endgültig ausdrückt.“ Zu der Hand, die aus der Dunkelheit nach den Individuen greift, passt nahtlos das ARPAnet, ein Vorläufer des Internet im frühen Computerzeitalter. Von dem heißt es, dass es den Beginn einer totalen Überwachung bedeuten könnte, dass es in das Leben jedes Einzelnen eindringen und es verändern werde: eine nachgeholte Vision unserer Gegenwart. Fast könnte man meinen, Thomas Pynchon erzählte nun die Vorgeschichte zu seinem dunklen achtziger-Jahre-Großroman „Vineland“.
Trotz alldem ist „Natürliche Mängel“ vor allem ein ungemein leichthändiger, komischer Roman, dessen Dialoge stets am Rande der Hirnverbranntheit balancieren, dessen aufgedrehte Figuren vor Schlagfertigkeit und Einfallsreichtum nur so sprühen, dessen Fortgang geradezu etwas Rasendes hat. Die narrative Struktur ist das Chaos selbst; das Paradies der unbegrenzten Möglichkeiten nimmt noch einmal Gestalt an – wenn auch nur in den Köpfen eines Haufens zugedröhnter Hippies.
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