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GS schrieb am 5.11. 2000 um 14:23:47 Uhr über

Leitkultur

Kein schöner Land

Typisch kleindeutsch: Die Verfechter der Leitkultur sind historisch ahnungslos, folgen einer fatalen Tradition und ignorieren das moderne Heimatgefühl

Von Gustav Seibt



Deutschland wird in den kommenden Jahrzehnten ein gewisses Maß an Einwanderung verkraften müssen, damit der demografische Bruch in der Generation der heute Vierzigjährigen zu einer sanften Landung wird. Das bestreitet mittlerweile auch jene Partei nicht mehr, die das Problem, solang sie selbst das Sagen hatte, hartnäckig leugnete. Die CDU - in Gestalt zuerst von Jörg Schönbohm und dann von Friedrich Merz - hat als neue Antwort auf diese Sachlage den Begriff einer »deutschen Leitkultur« entwickelt, der sich die Zuwanderer, wenn man schon nicht ganz auf sie verzichten kann, anzubequemen hätten. Der Inhalt ist diffus, er reicht vom Grundgesetz und von der Beherrschung der deutschen Sprache bis zu »abendländischen Werten«. Weniger sibyllinisch ist der neue Generalsekretär Meyer, der schon mal bellt, die Ausländer sollten sich an deutsche »Vorschriften und Gesetze« halten - ein paradoxes Verlangen in einer Situation, in der Ausländer sich nicht darauf verlassen können, dass die Polizei ihrer Pflicht nachkommt und ihr Leben schützt.

Doch so unklar der Inhalt des Begriffs Leitkultur ist, so klar ist seine Funktion. Das Wort Leitkultur bezeichnet eine Leerstelle: jene assimilatorische Anziehungskraft, die es Einwanderungsgesellschaften ermöglicht, Fremde aufzunehmen und doch ihre eigene Identität zu bewahren. Die »deutsche Leitkultur« müsste also im Effekt das leisten, was in den USA das mythologische Selbstverständnis einer Gesellschaft von freien und gleichen Glückssuchern oder in Frankreich das universalistische, an die Menschenrechte geknüpfte Verständnis der Nation bewirkt. Das amerikanische und französische Selbstverständnis realisiert sich geradezu in dem Vermögen der beiden Nationen, attraktiv über ihre Grenzen hinaus zu wirken. Ähnliches gilt für die englischen Gentleman-Ideale, auch für die Freiheitstraditionen von kleinen Nationen wie der Schweiz und Holland.

Die Austreibung des Geistes zugunsten des Reiches

Dass Deutschland in Wahrheit über eine solche werbende, gastfreundliche und aus sich heraus überzeugende Nationalkultur nicht verfügt, beweist der verkrampfte Versuch der Unionsparteien, sie autoritär zu postulieren. Je mehr gebellt wird, desto unattraktiver wird die deutsche Kultur. Das ist nun nicht erst Folge der nationalsozialistischen Verbrechen und der danach nötig gewordenen selbstkritischen Abrechnung, wie immer wieder behauptet wird - am prominentesten von Martin Walser -, sondern ein bereits vor dem Zweiten Weltkrieg diagnostiziertes Gebrechen der Bismarckschen Nationalstaatsgründung. Helmuth Plessner sprach schon 1935 in der ersten Auflage seines später unter dem Titel Die verspätete Nation berühmt gewordenen Buches vom Bismarckreich als reiner Machtschöpfung, von einer »Großmacht ohne Staatsidee«, ohne einen werbenden Gedanken, wie ihn Frankreich und England in die Fundamente ihrer Nationen eingesenkt haben. Nietzsches Formulierung von der Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches ist nichts als eine Abbreviatur dieses komplexen historischen Sachverhalts.

Der deutsche Nationalstaat wurde begründet in Kriegen, die erst den österreichisch-katholischen Teil ausschlossen und danach das kleindeutsche Reich in eine Dauerkonfrontation mit Frankreich brachten, jene Nation, von der in Anziehung und Abstoßung seit dem Mittelalter die wichtigsten kulturellen Stimulationen für die Deutschen ausgegangen waren. Seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon war der deutsche Nationalismus im Wesentlichen eine Abwehrhaltung, schon im Ursprung feindlich gegenüber dem Fremden und dem Kosmopolitischen. Der alte - genauer mittelalterliche - Kosmopolitismus der Deutschen, verkörpert im 1806 aufgelösten Reich, starb auf den Schlachtfeldern von Leipzig 1813, in den nationalistischen Exzessen von 1848, dann noch einmal bei Königsgrätz und Sedan. Exemplarisch ist auf höherer Ebene der Weg des deutschen Historismus von Herders Empathie für die Eigenarten der Völker zur Machtvergötzung der kleindeutschen Bismarck-Verehrer.

Der böse, exkludierende Ursprung des kleindeutschen Nationalstaats brach dann sogleich giftig im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung hervor: im antirömischen Kulturkampf mit seinen schweren Rechtsbrüchen, in der antipolnischen Politik für Westpreußen und im Berliner Antisemitismusstreit von 1878; in diese schmutzige Auseinandersetzung hätte das herrische Wort von der Leitkultur trefflich gepasst, handelte es sich doch schon damals um eine ganz künstliche Aufregung über die angeblich fehlende Anpassungsbereitschaft einer winzigen Minderheit.

Wer heute das Wort Leitkultur benutzt, muss viel vergessen haben von der deutschen Geschichte, die zu lieben er vorgibt. Denn an die Stelle jener humanitären Elemente, die den Nationalideen der westlichen Nationen eigen sind, trat bei den Deutschen ein Kulturdünkel, den das Wort Leitkultur mit hässlicher Genauigkeit trifft. Bekanntlich feierte dieses kulturelle Sendungsbewusstsein im publizistischen Kriegseinsatz Hunderter deutscher Professoren während des Ersten Weltkriegs seine lustvollsten Exzesse; man lese es nach in Kurt Flaschs jüngst erschienener Darstellung über die »Geistige Mobilmachung«. Hier wird deutlich, wie eine Leitkultur in Deutschland aussehen kann: protestantisch, militaristisch, idealistisch, also kompromisslos, antipolitisch, autoritär, verwaschen religiös und geschichtsphilosophisch. Die daran geknüpften Dichotomien sind bekannt: Kultur versus Zivilisation, Seele versus Geist, Musik versus Politik. Das, was Generationen begeisterter Ausländer einst als typisch deutsch empfunden hatten, das Zarte, Gemütvolle, sanft Anachronistische, Versponnene, auch Provinziell-Liebliche, Tiefsinnige des deutschen Daseins - all die romantischen Valeurs der deutschen Kultur, nicht zuletzt ihr Humor - waren da längst niedergetrampelt von den Homogenitätsidealen einer Gesellschaft, die keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kennen wollte.

Ohne diese Vorgeschichte hätten die Nationalsozialisten ihren Kampf gegen die moderne Kunst, die Kirchen und die Juden nicht einmal anfangen können. Sie haben den letzten Rest von Geistigkeit aus den deutschen Nationalgefühlen vertrieben; zurück blieben Selbsthass, betäubender Fleiß und jener fühllose Materialismus, der es Politikern immer wieder angeraten erscheinen lässt, an die niedrigsten Instinkte zu appellierenKinder statt Inder«).

Die junge Literatur erobert Humor und Gemüt zurück

Es ist nun allerdings nicht zu leugnen, dass der seit 1945 neu dazugekommene deutsche Selbsthass für die Assimilation von Fremden ebenso wenig tauglich ist wie der Kulturdünkel der vorangehenden Zeit. Wem es mit sich selbst nicht wohl ist, der wird auch kein weites Herz für Fremde entwickeln. Eine werbende Wirkung kann eine Lebensform nur entwickeln, in der die Menschen mit sich und den Ihren halbwegs im Reinen sind. Die Italiener denken von ihrer Nation im Großen nicht viel besser als die Deutschen; doch sie finden Gefallen an sich selber, an ihrer Lebensfreude, der Schönheit ihrer Kunst und ihrer Landschaften, und dieses ursprüngliche Behagen trägt bei ihnen ein gesellschaftliches Klima, das zwar keineswegs immer warmherzig ist, aber jedenfalls für Fremdenhass keinen Raum bietet.

Das aber beschreibt schon das Dilemma bei der »Leitkultur«. Was den Unionspolitikern vorschweben mag, wenn man ihnen einmal nicht nur Demagogie unterstellt, das lässt sich eben nicht anschaffen. Wer einen Neurotiker mit Minderwertigkeitsgefühlen anherrscht und ihm befiehlt, selbstbewusst zu sein, wird das Gegenteil erreichen. Wer sich sagt, wie schön es doch wäre, an Gott zu glauben, hat seinen Unglauben schon bekannt. Und wer fordert, dass eine »Leitkultur« hermuss, damit die Fremden sich anpassen, der hat schon zugegeben, dass es uns an dem kulturellen Charme fehlt, mit dem man die Fremden am besten bei sich eingliedert.

Nun sprechen aber einige Anzeichen dafür, dass weder der rituelle moralisierende Selbsthass eines Großteils der Öffentlichkeit noch das verschmockt-autoritäre Postulat einer Leitkultur den realen Stimmungen im nachdenklicheren Teil der Gesellschaft entspricht. Das Kursbuch hat soeben eine Reihe von Stellungnahmen deutscher Schriftsteller versammelt, die ein ungewohnt freundliches Verhältnis zur Nation zeigen. In der jungen deutschen Literatur sind - oft bei Autoren, die weit herumgekommen sind - Bilder der Heimat wieder möglich, die auf ihre zeitgenössische Weise romantische Motive wiederholen und dabei einfach gute Gefühle ausdrücken. So schwärmt David Wagner vom Rhein oder Christian Kracht von den Neckarauen - ganz Deutschland könnte so schön sein wie das Wort Neckarauen, wenn die Deutschen die Juden nicht umgebracht hätten, sagt Kracht, und daraus spricht nicht abwehrender Trotz, sondern trauernde Liebe.

Schon 1988 entwarf Eckhard Henscheids Roman Maria Schnee das Bild der oberpfälzischen Provinz als katholisierende Eichendorff-Landschaft. Brigitte Kronauer übersetzt die Verzwicktheiten altdeutscher Minne ins Moderne und wirkt dabei so typisch deutsch wie ein Wilhelm Raabe mit seinen Weitschweifigkeiten. Max Goldts ideologiezersetzender Humor der Genauigkeit zeichnet ein Bild unserer Lebenswelt, das so komisch wie in vielen Zügen anrührend ist. Robert Gernhardt schreibt Gedichte über Worms und den hohen blauen Himmel darüber, und Joachim Helfer kehrt nach einer langen Romanreise durch Amerika und Ostdeutschland mit beschleunigtem Herzschlag in den heimischen Taunus zurück - in weit ausschwingenden Perioden, deren Gesang reine Sehnsucht hörbar macht. Dabei fehlt nichts in all diesen Bildern, die Supermärkte nicht, die Betonsiedlungen, die tristen Kneipen und der oft barsche Umgangston.

Dieses Deutschland der jungen Literatur ist zweifellos gegenwärtig und zeigt trotzdem eine überwältigende Lokalfarbe, einen Nationalcharakter. Und der ist keineswegs abstoßend, sondern oft eher komisch, täppisch, manchmal sogar rührend und zart. Der Zeichner dieser Welt ist Achim Greser mit seinem Texter Heribert Lenz, die ein bodenständiges, urkomisches Traumdeutschland von heute entwerfen, in dem jeder zackige Spruch sofort in einem Pils ertränkt wird.

Aber die Politiker mit ihren entschlossenen Mienen kennen diese deutsche Kultur nicht. Sie kennen nur die Kultur der offiziellen Unruhestörer, Nobelpreisträger und Gutmenschen, und dagegen setzen sie ihre »Leitkultur«. Vermutlich enthält aber die Greser-Lenz-Imagination mehr deutsche Wirklichkeit als das gesamte Gedröhne der Politik. Die jüngere deutsche Kultur ist dabei, Humor und Gemüt wiederzuentdecken und zum ersten Mal seit Generationen ein untragisches, nichtmartialisches Verhältnis zur Nation zu entwickeln. Endlich könnten wir wieder sympathisch werden. Und die Politik redet von »Leitkultur«. Es ist zum Haareraufen.


Quelle: http://www.zeit.de/2000/45/Kultur/200045_leitkultur.html


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