Leitkultur
Ein Gespenst geht um in Deutschland
Von Jens Jessen
Die Ausländerfurcht kennt viele Begriffe, unter denen sie sich, wenn sie nicht gerade mit dem Baseballschläger tätlich wird, zu verstecken trachtet. Einer der fragwürdigsten ist die »deutsche Leitkultur«, von der Friedrich Merz wieder zu sprechen begonnen hat. Der Begriff klingt selbstbewusster, als er gemeint ist. Denn die Leitkultur sollen wir uns nicht als eine immer noch leitende, sondern als eine schon gefährdete vorstellen, insofern unterstellt wird, dass sich die frechen Ausländer nicht von ihr leiten lassen.
Aber worin, zunächst einmal ganz arglos gefragt, soll diese Kultur bestehen und woran kann man erkennen, dass sich einer von ihr leiten lässt? Lässt sich der türkische Schriftsteller Feridun Zaimoglu von ihr leiten, indem er auf Deutsch schreibt, für die ZEIT über Oberammergau berichtete und jüngst ein Buch vorlegte, das im Einwanderermilieu spielt, jedoch nach Mustern von Goethes Werther gearbeitet ist? Oder ist Zaimoglu gerade einer, der die Leitkultur gefährdet, weil er aus einer Bildungstradition schöpft, von der die meisten Deutschen sich nicht mehr leiten lassen? Wovon, nun schon etwas drängender gefragt, lassen sich die Deutschen denn selbst leiten?
Das Gerede von der Kultur, wir ahnen es, beruht auf keinem konservativen Bildungsbegriff, sondern auf jenem modisch entgrenzten Verständnis, das die Gesamtheit der Sitten und Gebräuche meint. Damit wird die Klage aber nicht plausibler. Auch in der Liebe zu dicken Autos und Partys im Freien lassen sich die Nachkommen der Gastarbeiter nur schwer von den Deutschen übertreffen; höchstens dass ihnen der Garten zum Grillen fehlt und sie deshalb auf öffentliche Parks ausweichen müssen. Aber das ist ein Einkommens- und kein Kulturproblem. Auch wenn ein Marokkaner beispielsweise mit Drogen handelt, folgt er keiner anderen Kultur als ein deutscher Drogenhändler; er bricht die Gesetze, die ähnlich in seiner Heimat gelten. Und wenn eine deutsche Frau zum Islam übertritt und ein Kopftuch trägt? Muss man sie tadeln dafür, dass sie sich von einer Mehrheitskultur nicht leiten lässt, die Kopftüchern skeptisch gegenübersteht?
Wenn es überhaupt einen Leitungsanspruch gibt, den zu verteidigen sich lohnt, müsste er sich auf eine Kultur beziehen, die gerade darin besteht, das Tragen oder Nichttragen von Kopftüchern, öffentliche oder private Grillen mit demselben Wohlwollen zu fördern. Alles andere wäre bösartige Hexenjägerei, von der sich Deutsche genauso bedroht fühlen sollten wie Ausländer auch.
Quelle: http://www.zeit.de/2000/44/Kultur/200044_spitze.html
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