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guido schrieb am 4.5. 2001 um 20:00:41 Uhr über

Landschaft

Die Landschaft

Es gibt heutzutage kaum ein Gebiet, in dem der BegriffLandschaftkeine Anwendung findet. Wir treffen auf ihn gleichermaßen in so unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Geographie, Soziologie, Geschichts- oder Kunstwissenschaft sowie im Alltagsgebrauch, sei es in den Medien oder im Privaten. In allen diesen Bereichen weichen die Bedeutungen dieses einen Wortes häufig voneinander ab. Ergänzt werden sie durch Wortzusammensetzungen, wie sie uns beispielsweise in der Kultur- oder Urlandschaft begegnen, in der Seen-, Berg- und Terrassenlandschaft, sogar in der Stadtlandschaft, ebenso der Zechen-, Industrie-, Leistungs-, Erlebnis- oder Medienlandschaft, der Winter-, Märchen-, Traum- und Seelenlandschaft, als auch in der System-, Modell-, Cyber- und IT- Landschafteine erschlagende, mitnichten vollständige Sammlung. Nun mag die Bedeutungsvielfalt (eher: Undeutlichkeit) des Begriffs Landschaft seineinflationäreVerwendung hervorgerufen haben, jedoch erklärt sie ihn nicht. Dabei ist gerade das Verständnis dieses Begriffs von eminenter Wichtigkeit, weil er in engem Zusammenhang mit dem Bild des Menschen von sich undseinerWelt steht.
Daher werde ich nach diesem Überblick über die Mannigfaltigkeit des BegriffsLandschaftzunächst unterschiedliche Definitionen zitieren, um anschließend auf die Punkte einzugehen, die zu seiner Entstehung geführt haben und dadurch aufzeigen, was sich hinter diesem einen Wort verbirgt: eine geänderte Sichtweise der Welt.

Definitionen
Die Bedeutung des WortesLandschaftwurde und wird immer wieder aufs Neue definiert und diskutiert. So finden sich als jüngste Beispiele vor allem welche aus dem französischsprachigen Raum. Diese, wie auch alle älteren Definitionen, sind sowohl zwischen, als auch innerhalb der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen umstritten.
Hilfreich ist in solchen Fällen der Blick auf die Herkunftsbeziehungen eines Wortes, doch ist ein erster Versuch zunächst enttäuschend: DasEtymologische Wörterbuch der deutschen Sprachevon Friedrich KLUGE stellt knapp fest, dass es für LandschaftSchon früh Anwendung auf Bilder und auf politische Vertreter eines Territoriumsgegeben habe und verweist neben einer anderen Quelle lediglich auf Gerhard HARD’s 1970 erschienene ArbeitDie Landschaft der Sprache und die Landschaft der Geographen“.
In ihr unterscheidet HARD insgesamt 14 Fälle fürLandschaft“, wendet aber 11 (?) Jahre später in einem Vortrag in Lokkum die 5 Definitionen von 1977 des Geschichtsgeographen Klaus FEHN an:
1. Die Landschaft der Kunstwissenschaften als Landschaftsbild und Landschaftsmotiv; 2. Die politische Landschaft in Staat und Verwaltung als politisch- geographischer Personenverband; 3. Die Geschichtslandschaft der historischen Wissenschaften als funktionaler Raum (im Sinne von Land, Region, Kulturraum); 4. Die Landschaft der Geographie als strukturell- physiognomisch bestimmter Ausschnitt der Erdoberfläche in der Gegenwart; 5. Die historische Landschaft der historischen Geographie als eben dasselbe (4.) in geschichtlicher Vergangenheit.“
Es sind dies Definitionen des Landschaftsbegriffs, die allesamt anwendungsbezogen sind, tauglich einzig für intradisziplinär- wissenschaftliches Arbeiten. Außerdem ergibt sich bei näherer Betrachtung, dass je zwei Punkte unter einem Oberbegriff zusammengefasst werden können und somit nur noch drei unterschiedliche Kategorien verbleiben. Diese wiederum entsprechen genau den drei Bedeutungen, die dasDeutsche Wörterbuchvon J. u. W. GRIMM aufzählt:
Landschaft1) Gegend, zusammenhängender Landstrich, Landcomplex; 2) künstlerische, bildliche Darstellung einer solchen Gegend; 3) sozial zusammenhängendes Ganzes.“
Diese drei Definitionen bilden meiner Ansicht nach den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich alle Anwendungen des Einzelwortes (ohne Präfixe) zurückführen lassen. Eine einzige Definition scheint unmöglich, weil sie Bedeutungsinhalte ausschlösse. Allerdings sind drei im Grunde ebensounmöglich“, weil sie, jede für sich einegenaue Begriffsbestimmung“ (= Definition), alle zusammen jedoch eine gewisse Ungenauigkeit mit einbeziehen wegen ihrer jeweils anderen Ausrichtung, wodurch es einer Auflistung dreier unterschiedlicher Begriffe gleicht – hier wäre das Ganze nicht mehr als die Summe seiner Teile, sondern etwas gänzlich anderes, das einzig Verwirrung hervorruft.
Um Landschaft zu verstehen, um die Tragweite, den Gehalt dieses so geläufigen Wortes fassen zu können, darf es mir also weniger um eine Aufzählung dessen gehen, was Landschaft heute alles bedeutet, als vielmehr darum, was hinter diesem Begriff steht: welche Sichtweise der Welt dazu geführt hat, was uns Landschaft heute ist. Hierfür sind die Ursprünge des Begriffs genauer zu betrachten.

Deszendenz
Es ist wichtig zu wissen, dass für die Bedeutungen des BegriffsLandschaftzwei unterschiedliche Herkunftsbeziehungen vorliegen, wobei die dessozial zusammenhängenden Ganzenvon älterer Deszendenz ist: Sie wird auf das lateinische „regio“ (beziehungsweise zunächst „provincia“) zurückgeführt und meint eine Siedlungseinheit, die zugleich politische Einheit sein kann. In dieser Beziehung zum Wort „regio“ steht schon der BegriffLand“, zu dem es bei GRIMM heißt:
„urspr. germ: den Theil oder die Reihe Ackerflächen bezeichnend habend, die jeder der markgenossen jährlich zur Bebauung angewiesen erhielt.“
Hier liegt eine Verknüpfung vor, in der die landwirtschaftlich genutzte Fläche nicht losgelöst von der sozialen Struktur gesehen werden kann und entspricht hierdurch der o. g. „politischen Einheit“.
Der Verweis aufLandist deshalb nötig, weil das WortLandschaftals solches das erste mal gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Erscheinung tritt. Ausgehend vom Niederländischen („landschap“) erscheint es als Fachwort „der Maler und Kunstverständigen, welches Landschaftsbild bedeutetealso künstlerisches Portrait einer regio, gemaltes Konterfei einer Landschaft“. Hierin liegt also die andere Deszendenz des Landschaftsbegriffes, die zu seiner heute geläufigsten, wenngleich im westlichen Kulturkreis verhältnismäßig jungen Verwendung im Sinne von „Landcomplex“, also als „landscape – paysage – paesaggio“ führt.
Wie erwähnt, geht es mir mit oben genanntem nicht um die unterschiedlichen Bedeutungen; vielmehr ist festzuhalten, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht etwa ein Bedeutungswandel, der in der Sprache üblich ist, sondern eine Bedeutungserweiterung stattgefunden hat, für die schließlich ein neues Wort geschaffen wird.
Nun tritt ein Neologismus erst als Resultat einer Veränderung auf, die schon stattgefunden hat; man bemerkt auf einmal etwas, für das einem buchstäblich die Worte fehlen. Was genau hat sich da verändert, dass diese Wortneuschöpfung nötig wurde, die dasPortrait einer regio“ beschreibt? Wo eine Wahrnehmung von Landschaft im GRIMM’schen Sinne des „Landcomplexes“ nicht existiert hat, ist es die Wahrnehmung von Natur, die sich zu einer Wahrnehmung von Natur als Landschaft gewandelt hat, wie es der Philosoph Joachim RITTER formuliert, oder anders ausgedrückt: von einer „religiösen“ hin zu einer „realistischen“ Sichtweise der Natur.

Wahrnehmungswandel
Ein Wandel von „religiöser“ respektive „symbolischer“ zu „realistischer“ Wahrnehmung von Natur lässt sich sowohl in der Malerei als auch in der Literatur aufzeigen. Betrachten wir hierfür die Thesen RITTERs, der diesen Wandel anhand literarischer Beispiele darlegt; bevor ich ihre Gültigkeit an Beispielen aus der Malerei überprüfe.

Dichtkunst
In dem KapitelLandschaftZur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaftseines BuchesSubjektivitätmacht RITTER die Zuwendung zur Natur als Landschaft erstmals in einem Text aus, in welchem PETRARCA seine Besteigung des Mont Ventoux im April 1335 beschreibt, die er allein um ihrer selbst willen auf sich genommen hat. Deren epochale Bedeutung liegt für RITTER in zwei Punkten: Erstens, weil PETRARCA die Bergbesteigung in Begriffen der philosophischen Theorie- Tradition begründe, indem seine Beschreibung nur auf signifikante Worte der griechisch- antiken Philosophie zurückgriffe. In ihr meine Natur als Gegenstand der Betrachtung (Jeoria tou kosmou) immer die „’ganze Natur’, die allem von Natur Seienden zugrunde liegt und in ihm gegenwärtig ist.“ Dadurch werde das zukünftige ästhetische Verhältnis zur Natur als Landschaft in dieser Tradition konstituiert. Und zweitens stelle PETRARCA’s Zuwendung gleichzeitig eine neue Gestalt und Form derfreien Betrachtung der ganzen Naturdar:
Wie es bereits die Begegnung Petrarcas mit dem alten Hirten zeigt, ist Landschaft dem in der Natur wohnenden ländlichen Volk fremd und ohne Beziehung zu ihm. (...) Natur ist für den ländlich Wohnenden immer die heimatliche, je in das werkende Dasein einbezogene Natur: der Wald ist das Holz, die Erde der Acker, das Wasser der Fischgrund. Was jenseits des so umgrenzten Bereichs liegt, bleibt das Fremde; es gibt keinen Grund hinauszugehen, um diefreieNatur als sie selbst aufzusuchen und sich ihr betrachtend hinzugeben. Landschaft wird daher Natur erst für den, der in sie ‚hinausgeht’ (transcensus), umdraußenan der Natur selbst als an demGanzen’, das in ihr und als sie selbst gegenwärtig ist, in freier genießender Betrachtung teilzuhaben.“
Auf dem Boden der philosophischen Theorie (klassische Antike, Anm.) gibt es keinen Grund, ein besonderes, von der begrifflichen Erkenntnis unterschiedenes Organ für die Vergegenwärtigung und Anschauung der sichtbaren Natur ringsum auszubilden.“ Denn: alles Sinnfällige wirdbereits in den Begriffen gewusst und ausgesagt.“
Landschaft ist also ein Organ, ein Werkzeug (organon, alt- gr.; organum, lat.) gleich einer Brille, die es uns ermöglicht, die Aspekte des auch transzendierenden Charakters der Natur wahrzunehmen und eben nicht nur in „begrifflicher Erkenntnisdie rein immanenten.
Wir müssen uns hier vor Augen führen, dass sich PETRARCA in einer Zeit des Umbruchs befand, in der die bis dahin metaphyisisch mystifizierte Natur objektiviert und verdinglicht wurde. RITTER merkt an, dass dieobjektiveNatur der Naturwissenschaften die Begriffe aus demZusammenhang des Daseinsgelöst hätten. Das kopernikanische Weltbild habe begonnen, das ptolemäische zu ersetzen, so dass die Natur und ihre Begriffe nicht mehr ihren transzendierenden, ihren metaphysischen Gedanken enthielten und somit auch nicht mehr vermittelten. PETRARCA gelänge hier eine Doppelheit von Kontinuität und Abbruch: Durch seine Wortwahl setze er einerseits Zeichen, dass dieser Umbruch keinen Bruch zu den Wurzeln unserer Kultur bedeute, sondern in der Tradition der Antike fortgeführt werde. Gleichzeitig stelle er sich diesem Wandel, der die Natur ihres transzendierenden Charakters beraube. Um diesen verloren gehenden Aspekt der ehemalsganzenNatur zu bewahren, um ihn hinüberzuretten aus der klassischen Antike in diese erste Moderne und somit Kontinuität beibehalten zu können, werde bei ihm, und hier liegt der Bruch mit der Vergangenheit, erstmals in literarischer Form die betrachtete Natur in freier, genießender Anschauung beschrieben. Eine solche ist für RITTER ästhetische Empfindung, ist ein neues Organ, um aus Naturteilen wieder dieganzeNatur des „Göttlichen“ zu machen: eben als Landschaft.
Landschaft ist die ganze Natur, sofern sie als ‚ptolemäische’ Welt zum Dasein des Menschen gehört. Sie bedarf da der ästhetischen Aussage und Darstellung, wo die ‚kopernikanische’ Natur diese nicht in sich begreift und außer sich hat. Wo der Himmel und die Erde des menschlichen Daseins nicht mehr in der Wissenschaft wie auf dem Boden der alten Welt im Begriff der Philosophie gewusst und gesagt werden, übernehmen es Dichtung und Kunst, sie ästhetisch als Landschaft zu vermitteln.“
Nehmen wir ihn also beim Wort und überprüfen, ob die Thesen der Zuwendung zur Natur als Landschaft und der ästhetischen Produktion derselben als Vermittler des Metaphysischen in der bildnerischen Darstellung dieser Zeit nachgewiesen werden können.

Bildkunst
Um in der bildenden Kunst den gleichen Bruch von der Wahrnehmung der ganzen Natur hin zu einer Natur als Landschaft aufzuweisen, vergleiche ich die Symbolische Malerei des Früh- und Hochmittelalters mit den Anfängen der beziehungsweise den Übergängen zur Renaissance durch die Entwicklung der ...perspektive von Giotto di Bondone (um 1267 – 1336). Vorraussetzung hierfür ist die Gültigkeit folgender Annahme: Wenn sich die Bilder unterschiedlicher Künstler einer Epoche in wesentlichen Strukturmerkmalen gleichen, dann lassen diese Ähnlichkeiten im Formalen auf eine ihnen allen gemeinsame Weltsicht schließen. Wo sich aber die Gemeinsamkeiten in der Malerei zugunsten anderer verändert haben, hat sich auch die Sichtweise innerhalb dieser Kultur gewandelt.
Betrachten wir zunächst die Struktur des Landschaftskonzeptes, die sich dem Kunstwissenschaftler Gottfried BÖHM zufolge die Malerei in Europa nach 1350 erarbeitet hat:
1. Landschaft ist immer Ausschnitt. Sie erscheint in einem Durchblick. Das Bild ähnelt einem offenen Fenster.
2. Im Ausschnitt soll mehr als der Ausschnitt aufscheinen. Im Teil ein Ganzes spürbar werden.
3. Das Bild zeigt einen Raum, der gestaffelt, der tief, d. h. bühnen- oder prospektartig erscheint.
4. Sein wesentliches Kennzeichen ist der Horizont, d. h. jene Orientierungslinie, an der wir die Distanz und die Unterscheidung zwischen Oben und Unten ablesen.“
BÖHM nennt hier vier Punkte, die sich in allen Landschaftsbildern der unterschiedlichen Epochen bis etwa 1850 ausmachen lassen, sei es die Donauschule, die empirische Landschaft Hollands, die klassische Landschaft Italiens oder die romantische Landschaft wie zum Beispiel bei C. D. Friedrich. Sie weisen bei aller Unterschiedlichkeit diese vier Gemeinsamkeiten im Formalen auf, wodurch wir schließen können, dass der grundlegende Prozess des Wandels einer Weltsicht in der Gruppe dieser Künstler schon stattgefunden hat. Er fasst diese Epochen treffend unter dem Schlagwort der „Nachahmungsästhetik“ zusammen, wodurch sehr deutlich von der ihr vorangegangenen Symbolischen Malerei unterschieden wird.
Was sind nun die grundlegenden Gemeinsamkeiten der Bilder der Symbolischen Malerei?
Der Kunsthistoriker Erwin PANOFSKY führt hierzu in seiner 1927 erschienenen SchriftPerspektive alssymbolische Form’“ auf, dass eszwischen den Figuren und deren räumlichen Umgebung, d.h. ihrer Hintergrundfläche eine unauflösbare Einheit zu geben scheint.“ Das Bild kann damit keinem „offenen Fenster“ (ad 1) gleichen, weil in dieser Epoche Dreidimensionalität nur ansatzweise auftritt: Das Mittel der Raumtiefe wird kaum angewendet, und wenn, scheint sie für unser Auge nichtrichtiggezeichnet zu sein. Auch wird nichtim Teil ein Ganzes spürbar“ (ad 2), weil die Bilder in eine Vielzahl von Räumen zerfallen. Dies um so mehr, als jedes Element eine in sich geschlossene räumliche Einheit sei, wie es 1954 der Kunsthistoriker und Psychologe Rudolf ARNHEIM in seinem BuchKunst und Sehen“ formuliert. Indem in vielen Bildern jedes Bildelement sein eigenes System perspektivischer Darstellung hat, gibt es keine Einheit des Gesamtraumes und somit keinen „bühnenartigen“ Aufbau (ad 3).
Deutlicher tritt das Bild der Symbolischen Malerei vor unser inneres Auge, wenn ich weitere, ungeordnete Auffälligkeiten aufzähle: So scheinen die Figuren genauso wenig der Schwerkraft zu gehorchen wie die Gebäude den Gesetzen der Statik. Bildausschnitte sind zum einen Ausschnitte einer Geschichte, die dieselbe Person mehrfach im Bild in unterschiedlichen Phasen der Handlung erscheinen lassen können und dem Betrachter dadurch wechselnde Blickpunkte bieten; zum anderen sind diese Ausschnitte in sich vollständig: Sie sprengen den Rahmen des Bildes nicht, wodurch sie auf einreales außerhalbverweisen würden, wie dies ein nur halbseitig dargestellter Baum oder eine durch den Bildrand abgeschnittene Person täten und dadurch den Bilder- als Fensterrahmen erscheinen ließen. Zu dem Eindruck, dass die Bilder keine wirklichkeitsgetreue Nachahmung bieten, wie es bei tiefen, gestaffelten Räumen der Fall wäre, tragen Formmittel bei wie zum Beispiel eine klare Standlinie für Figuren, ein Sprung in der (dadurch misslungen wirkenden) Perspektive oder die Verwendung einer Bedeutungsperspektive, die den „wichtigeren“ Personen im Bild die doppelte Körpergröße gegenüber den anderen zubilligt.
Allerdings geht unter all diesen Details das wesentliche Merkmal unter, weil es einfach zu offensichtlich ist: Das Auftreten von Landschaft als Gegenstand der Malerei.
BÖHM nennt das Jahr 1350 vermutlich deshalb, weil es seit dieser Zeit Bilder gibt, in denen die Landschaft den Hauptakteur darstellt, doch sind die Anfänge zu dieser Entwicklung fünfzig Jahre früher bei Giotto zu suchen:
Auch wenn Giotto noch nicht die weiten Landschaften und die tiefen Innenräume der Renaissance darstellt, so sind seine Berge, Tempel und Häuser auch nicht mehr bloße Andeutungen wie in der älteren Malerei.“
Dieältere Malerei“, das ist die byzanthinisch beeinflusste „goffa maniera greca“ oder Symbolische Malerei, die bis ins frühe 14. Jahrhundert hinein in ganz Europa dominierte. In ihr wird Natur nur dargestellt, nicht abgebildet, denn sie ist nicht wirklichkeitsgetreu im heutigen Verständnis. Sie erscheint immer nur als einzelnes Element und hat in dieser Form einzig symbolischen Wert und funktionalen Charakter . Nun könnte man die Ursache dafür darin sehen, dass diese Künstler noch nicht perspektivisch korrekt zeichnen konntenhier würden allerdings Ursache und Wirkung miteinander vertauscht: Das realistische perspektivische Zeichnen hat sich nicht entwickeln können, da es nicht gebraucht wurde, nicht nötig war, weil die Vertreter der „maniera graeca“ die Dinge schlicht anders GESEHEN haben: Als eine Natur, die aus Einzelementen besteht, miteinander verbunden allein durch den Schöpfergott. Wo aber alle Dinge von vornherein als durch Gott verbunden gedacht werden, da bedarf es keines weiteren Mittels, diese Verbindung der Naturbestandteile sichtbar zu machen. Als Mittel hierfür dient uns heute die (Zentral-) Perspektive und als Form die Landschaft. Daher tritt Landschaft als solche in der Symbolischen Malerei nicht auf.
Bei Giotto hingegen setzt Natur denRaum für das Agieren, das Reagierenfest; sie wirdals Raumangabe und zur (inhaltlichen, nicht mehr zeitlichen; Anm.) Gliederung des Geschehens genutzt“ . Das heißt, dass die Natur nicht mehr nur symbolischen Charakter hat, sondern direkt auf die Handlung bezogen, also „Handlungsort“ ist. Sie bietet dem Geschehen einen Platz, das auf die dargestellte Weise an dem dargestellten Ort genauso stattgefunden haben kann. Das Bild wird so zu einer Momentaufnahme und die Natur erstmals zur Landschaft.
Die Anfänge für diese Revolution im Sinne einer Aufhebung der bisher als gültig anerkannten Gesetze finden sich in der von Giotto und seinen Mitarbeitern um 1300 gezeichneten Franziskuslegende. In ihr wird die Geschichte und Entwicklung des Heiligen Franziskus dargestellt . Die ersten Neuerungen, an denen sich Giotto hier versucht, haben alle den Zweck, das Geschehen so real wie möglich zu gestalten . Hierzu dienen ihm Ortsdarstellungen und eine Psychologisierung des Gezeigten, die beim Betrachter den Eindruck einer Momentaufnahme erwecken, weil die einzelnen Figuren innerhalb des Bildes unmittelbar auf das Geschehen reagieren. Das zeigt sich zum Beispiel im „Quellwunder“, dem 14. Bild der Franziskuslegende: Dort sehen wir den Heiligen Franziskus inmitten einer trockenen, felsigen Landschaft mit zum Himmel gestreckten Armen beten; dieses Gebet lässt einen Quell hervorsprudeln, der den Durst eines Bauern stillt, welcher dem Heiligen seinen Esel als Reittier zur Verfügung gestellt hat. Das Tier ragt teilnahmslos über den Bildrand hinein, während zwei mitgereiste Mönche beredte Blicke über das Geschehen tauschen. Auf diese Weise nehmen sie die Reaktion desjenigen vorweg, der hier vom Betrachter zum Zuschauer wird .
Deutlicher wird dieser Eindruck noch auf dem Stefaneschi- Altar , insbesondere auf der Darstellung derEnthauptung Pauli“, die der Legende nach in freier Natur stattgefunden haben soll. Man sieht den Moment unmittelbar nach der Enthauptung: Der Kopf des Heiligen Paulus liegt schon auf dem Boden, losgelöst von seinem Körper. Um ihn herum steht eine Gruppe Trauernder, die Männer steif und entsetzt herniederblickend, die Frauen gramgebeugt oder kniend, während sie die Hände ringen. Der Henker steckt sein Schwert ungerührt in die Scheide; auch die Soldaten haben ihre Arbeit vollendet und ziehen ab. Diese abgebildete Wiederholung der realen Situation im Bildvordergrund dient der Vergegenwärtigung und Natürlichkeit einer heiligen Situation : Im Bildhintergrund wird ein himmlisches Geschehen gezeigt, in welchem der Magd Plantilla als Zeichen des Trostes von der geflügelten Seele des Enthaupteten das Tuch zugeworfen wird, in dem sein Blut aufgefangen wurde. Miteinander verbunden werden irdisches und himmlisches Geschehen durch eine Felslandschaft, in der sich in der Ferne als Landmarke der Leuchtturm von Ostia befindet:
In einer Zeit, in der Landschaften noch nicht zum Repertoire der Künstler gehören, ist die Tiefenwirkung dieser Felsen schon sehr bemerkenswert. Erste Erfahrungen mit Landschaftsdarstellungen sammelte Giotto bereits in den Fresken in Assisietwa im Quellwunder – und in der Arena- Kapelleetwa im Traum Joachims. Wie bei diesen Fresken ist auch hier die Landschaft direkt auf die Handlung bezogen.“
Die Darstellung von Landschaft hat hier also fünfunddreißig Jahre vor PETRARCA die Funktion, die zwei für uns heutzutage so selbstverständlich getrennten Bereiche der Immanenz und Transzendenz miteinander zu verbinden und durch die realistische Darstellung des einen auch das andere (genauer: das Andere!) als Wirklichkeit zu vermitteln und nicht nur als abstrakten Glaubensinhalt. Durch die einsetzende Objektivierung der Naturwissenschaften und die durch sie bewirkte Verdinglichung der Natur wird Gott nicht mehr inmitten aller Dinge gesehen, wie es noch bei den großen christlichen Mystikern der Fall war. Seine Existenz anzuzweifeln ist zwar noch lange nichtmainstream“, aber ein erster Riss ist entstanden, durch den dem Natürlichen das Göttliche entschwunden ist. Wo Natur ist, wird von nun an nur Natur gesehen: realistisch. Einzig über die künstlerische Einholung dessen durch die Form der Landschaft wird ihrgöttlicher Hauch“, ihr spiritueller Aspekt wieder ausgedrückt.
So, wie Giottos Werk von den Fresken in Assisi bis zur Enthauptung Pauli 1313 eine Weiterentwicklung der räumlichen Dimensionen und eine immer konsequenter angewendete Perspektive aufzeigt, verhält es sich auch mit der „realistischen Sicht“: Sie ist wie ein Gedanke, der sich langsam entwickelt vom Verschwommenen und dann im Laufe der Jahre klare Konturen annimmt, sichtbar wird für andere und sich ausbreitet, festsetzt in anderen Köpfen, wo er auf unterschiedliche Weise Form annimmt, wie wir schon am literarischen Beispiel PETRARCA’s gesehen haben.


Landschaft ist also durch Bild- und Dichtkunst ästhetisch vermittelte und vergegenwärtigte Natur in ihrer Beziehung zum Menschen. Für RITTER ist dieGleichzeitigkeit wissenschaftlicher Objektivierung und ästhetischer Vergegenwärtigung im Verhältnis zur Naturunumgänglich, denn sie tritt neben die entdeckenden Wissenschaften, um ästhetisch vermittelte Wahrheit dessen zu sein, was in ihr ungesagt bleiben muss: das Metaphysische.
In dieser Form steht Landschaft für mich jenseits aller Sachzwänge, Analysen und Kosten- Nutzen- Rechnungen. Mehr noch: In dem Verweis auf Gleichzeitigkeit dieses unbewusst verlaufenen Prozesses wird nicht nur der Sachverhalt konstatiert, dass die Landschaft immanenter Teil der Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft ist. Es wird ebenso die Notwendigkeit ausgedrückt, dass eine Gleichrangigkeit zwischen Objektivierung der Natur und ästhetischer Vergegenwärtigung ihres transzendierenden Gehalts von eminenter Wichtigkeit ist: Erstere dient der Erkenntnis der materiellen Welt und somit der Freiheit im Sinne einer Emanzipation des Menschen aus der Macht der Natur , letztere lässt den Menschen seine ganze Wirklichkeit empfinden. Sie verleiht dem auch trotz Dechiffrierung des humanen Genoms nicht aufgehobenen, aufgrund seiner Kreatürlichkeit immer bestehenden Zusammenhang von Mensch und umruhender Natur Sprache und Sichtbarkeit. Dieser Zusammenhang bliebe ansonsten ungesagt in der „Objektwelt der Gesellschaft“, die die Natur verdinglicht und sich in zunehmendem Maße ihrer moralischen Schranken entledigt. So konstatiert schon RITTER, dass ein Ungleichgewicht von „Objektivierung“ undÄsthetik“ (bei ihm immer im Sinne vonNatur als ästhetisch vermittelte Landschaft“) die Entfremdung des Menschen ausseinem eigenen Sein und der ihm aus seiner geschichtlichen Herkunft zugehörenden Weltzur Folge hätte. Landschaft gibt dem Menschen zurück, was in der Verdinglichung der Welt verloren geht.



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