Lähmungserscheinungen.
Es geht mir nicht gut. Wüßte gern, ob das mit Gerts langer Abwesenheit zu tun hat, oder ob ich mir diese Verbindung bloß denke. Seit seinem Abschied jedenfalls bekomme ich kaum noch was hin. Verwalte lediglich leere Zeit trotz eines immer größer werdenden Anforderungskataloges. Seit einigen Tagen kann ich kaum die Wohnung verlassen. Dauernd muß ich Sachen durchzählen. Bierflaschen 4, 8, 12, 16, 20. Im Aschenbecher: Wie viele Zigaretten habe ich geraucht; 22, 26, 32? Seit heute Nachmittag. Wie viele Löffel in die Kaffeemaschine? Laut zählen hilft.
Zuerst war ich etwas amüsiert über diesen neuen Tick, aber mit den Tagen habe ich festgestellt, daß dieses dauernde Zählen von ganz allein und immer häufiger zu Tage tritt. Wie viele Zeilen schon auf dieser Seite? Zählen ordnet meine Welt und macht sie im wahrsten Sinne berechenbar.
Die Tage bis zu Gerts Rückkehr kann ich nicht zählen, denn ich weiß ja nichtmal genau, ob er noch lebt. Gerd könnte für eine Idee schon gestorben sein. Wer glaubt heutzutage an Gerechtigkeit?
Gegen Kippenzählen aus Interesse habe ich eigentlich nichts. Allerdings zähle ich seit 2 Tagen auch Dinge, deren Anzahl ich kenne. 32 Kanäle und Zähne, je 5 Finger und Zehen, die Anzahl der Pflanzen, die Jahre meines Lebens, die Tage, die Gert schon weg ist. Dieses Nachzählen ist wirklich anstrengend, denn wenn ich einmal damit angefangen habe, bekomme ich nicht selten den Eindruck, ich hätte mich verzählt. So zähle ich nach der ungefähren Hälfte der Zähne vielleicht nur 7 oben und muß sofort wieder anfangen und das mit der erwarteten 8 abgleichen. Manchmal will ich sogar lügen, was natürlich nicht gelingt, bei den Zähnen auch nicht nötig ist. Bei Flaschen, Dosen oder Kippen oder sogar einmal bei Pflanzenblättern wollte ich das Ergebnis trotz mehrmaligen Nachzählens einfach nicht wahrhaben. So habe ich eines morgens über eine Stunde damit verbracht, die Blätter meines Ficus zu zählen. Nach dem verifizierten Ergebnis und einer Pause fiel mir ein, daß ja manche Blätter lose sein könnten und daß das Ergebnis dann schon hätte falsch sein können. Nach dem Kaffe startete ich also noch einen Zählvorgang, bei dem ich ganz leicht an jedem Blatt zog, um mich zu vergewissern, daß es wenigestens noch einen Tag halten würde. Das hat fast 2 Stunden gedauert, weil ich schließlich erst auch die Zugstärke festlegen mußte. War natürlich letztlich nicht wirklich objektiv und unter Laborbedingungen, aber immerhin konnte ich 21 Blätter noch abziehen, weil sie fast von selbst in meine Hand gefallen sind.
So kann man Vormittage verbringen.
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