Karzis Abenteuer
Es war einmal, so beginnen alle schönen Märchen, und so soll auch dieses beginnen, wenngleich es auch gar kein richtiges Märchen ist. Denn es hat sich wirklich genau so zugetragen und kann jederzeit wieder passieren, auch gerade jetzt in diesem Augenblick und vielleicht sogar an verschiedenen Orten der Welt. Es war also einmal, und zwar irgendwo in einem menschlichen Körper. Da gab es einige Krebsgeschwüre, und zwar eine richtige kleine Tumorfamilie mit Mammakarzinom, Pappakarzinom und mehreren kleinen Metastasen, wie die lieben Kinderchen der Krebsgeschwüre genannt werden. Das kleinste der Metastasenkinderchen hieß mit Namen Karzi. Zugegebenermaßen ein recht geläufiger Name unter den Krebsgeschwüren, doch von ihm soll unsere Geschichte handeln. Denn Karzi bereitete seiner Familie nichts als Kummer und Sorgen, weil es nicht so recht wachsen wollte. Die größte Erfüllung im Leben eines Krebsgeschwüres ist nämlich, um es gleich vorauszuschicken, das Wachstum. Und weil Karzi in der Tat außerordentlich klein und schmächtig war, wurde das arme Geschwür von seinen viel größeren Tumorgeschwistern kaum beachtet. Lediglich die Eltern achteten zwischen ihren Metastasen auf Gerechtigkeit und versorgten Karzi genauso liebevoll und reichlich mit kostbarer Lebensenergie wie die anderen Sprösslinge. Im Großen und Ganzen indes führten die Karzinome ein zwar nicht ganz sorgenfreies, aber doch immerhin ein recht beschauliches Dasein im Körper des Menschen, bis dieser irgendwann Blut zu spucken begann und infolge andauernder und bisher nicht gekannter Beschwerden einen Arzt aufsuchen musste. Der Arzt erkannte rasch, dass sein Patient innerlich bereits total verkrebst war und teilte ihm das auch mit. Freilich wurden im Körperinneren daraufhin massenhaft Schreckhormone aktiviert. Für die Krebsgeschwürfamilie war das mit einem unbeschreiblichen Lustgefühl verbunden und kam fast einem Orgasmus gleich, was einen bedeutenden Wachstumsschub für alle zur Folge hatte. Für alle bis auf Karzi. »Du bist nicht viel mehr wert als gesundes Gewebe!« zischten ihm daraufhin die Geschwister zu, was freilich völlig aus der Luft gegriffen war und nur auf purer Bösartigkeit beruhte. Doch sollte die hübsche kleine Familie von Krebsgeschwüren in absehbarer Zeit noch von ganz anderen Unannehmlichkeiten heimgesucht werden, denn der Mensch, dessen Körper ihre Heimat war, unterzog sich einer Chemotherapie. Das beschauliche Leben war hiermit vorüber und eine Zeit unermesslicher und nicht enden wollender Torturen stand bevor, welche die Krebsgeschwüre bald an die Grenzen all ihrer Kräfte brachte. »Wenn wir als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen wollen«, riefen die Eltern ihren zahlreichen Metastasenkinderchen zu», müssen wir zusammenarbeiten. Ihr seid nun groß genug, um selbst auszustreuen!« Damit meinten sie, dass sie sich niedliche, kleine Enkelmetastasen von ihren Metastasenkinderchen wünschten. »Streut aus! Streut aus!« riefen sie ihren Kindern jeden Tag aufs Neue zu, »Streut aus, streut aus!« Und tatsächlich mobilisierten die Tumorkinder ihre letzten Kräfte und bildeten winzig kleine Metastasen aus, womit sie Mammakarzinom und Pappakarzinom eine große Freude bereiteten. Nur das kleinste von ihnen, Karzi natürlich, hatte keine einzige Metastase hervorgebracht, was seine größeren Geschwister freilich auf das äußerste erboste. Sie schalten Karzi gar als einen aus der Art geschlagenen Faulpelz. Indes, die Chemotherapie war noch längst nicht überstanden, als sich irgendwann eine furchtbare Tragödie anbahnte. Denn es trug sich zu, dass die winzigen Enkelmetastasen nach und nach abzusterben begannen, worauf auch Pappakarzinom infolge des Kummers verschied. »Daran ist nur Karzi schuld«, schimpften seine Geschwister, »denn immerhin haben wir unter Aufbietung unserer letzten Kräfte noch was Ordentliches im Leben zustande gebracht, während Mammakarzinoms Liebling immer nur auf der faulen Haut gelegen hat!« Mammakarzinom, welche infolge der grausamen Chemotherapie bereits außerordentlich geschwächt war, hörte so was natürlich gar nicht gern und tröstete Karzi immer wieder. »Es ist nämlich so«, begann sie eines Tages zu erklären, »dass der Lebenszweck von uns Krebsgeschwüren einzig und allein darin besteht, möglichst viele Metastasen zu bilden. Und schließlich ist es für uns die größte Erfüllung, den Körper, welchen wir bevölkern, zum Absterben zu bringen und gemeinsam mit ihm zugrunde zugehen. Denn erst dann haben wir unseren göttlichen Auftrag erfüllt, verstehst du das, Karzi?« Karzi verstand sehr wohl, wie Mutter das meinte, doch nützte all diese Einsicht nicht das Geringste, wenn man es selbst einfach nicht schaffte, eine eigene Familie zu gründen. Und in der Nacht von einem Sonntag zu einem Montag geschah das Unvermeidliche, indem auch Mammakarzinom unter unermesslichen Qualen zugrunde ging. Die Wut der Metastasen auf Karzi war nicht mit Worten zu beschreiben. Doch folgte auf die Wut alsbald die schiere Verzweiflung, denn die grausame Chemotherapie schwächte die Krebsgeschwüre derart, dass eines Tages nur noch drei von ihnen am Leben waren, die gar nicht mehr an die alte Tumortradition der Metastasenbildung dachten, sondern lediglich ums Überleben kämpften. Aber immerhin gehörte auch Karzi zu den Überlebenden. Die beiden anderen waren nach einigen Wochen derart von der schrecklichen Chemotherapie gezeichnet, dass ihnen sogar die Kraft fehlte, auf Karzi zu schimpfen. Aber auch Karzi ging es alles andere als gut, das arme, kleine Krebsgeschwür wurde von Schmerzen und einem entsetzlichen Brennen geplagt, dass es einem nur leidtun konnte. Doch noch schlimmer traf es Karzis Geschwister, welche beide im Abstand von wenigen Tagen unter unermesslichen Qualen zugrunde gingen. Somit war Karzi ganz auf sich allein gestellt. Hat ja auch was Gutes, dachte Karzi im Stillen, denn da ist niemand, der einem das Leben schwer macht. Und es sollte noch besser kommen, denn irgendwann fand auch die schreckliche Chemotherapie ein Ende. Rosige Zeiten standen bevor, denn der Patient wurde als geheilt aus der Klinik entlassen und Karzi hatte es überlebt! So langsam erholte sich Karzi von seinen Leiden und gedieh in der Folgezeit prächtig. Doch eines Tages, niemand weiß mehr wann genau, fühlte sich das Krebsgeschwür ganz besonders wohl und wunderte über alle Maßen, als etwas aus ihm herauswuchs. Karzi vermochte sein Glück kaum zu fassen, denn es war wirklich eine kleine Metastase! Welch eine Freude! Und das sollte erst der Anfang sein, denn innerhalb weniger Wochen bildete Karzi noch sieben weitere Metastasen aus, die allesamt sehr wuchsfreudig waren und sich zu einer neuen, bisher nicht gekannten Krebsart entwickelt hatten. Langsam kam Karzi so richtig in Übung, und nach knapp drei Jahren wurde der gesamte Bauchraum des Patienten von Karzis Großfamilie bevölkert. Streit gab es unter den Geschwüren so gut wie niemals, und immer wieder erzählte Karzi seinen Metastasen, den Enkelmetastasen und den Urenkelmetastasen, wie wichtig es doch ist, als Familie zusammenzuhalten und seinen Zielen treu zu bleiben. Ausdauer zahlt sich halt aus! Und wenn der Mensch, dessen Körper die Heimat der heiteren Krebsgeschwürfamilie ist, noch nicht gestorben ist, so gedeihen die Tumoren noch heute glücklich und zufrieden!
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