Der elitäre Kleinbürger
Zu Thilo Sarrazins Thesen
von Axel Weipert am 26. August 2010 Nicht zum ersten Mal meldet er sich zu Wort, der ehemalige Berliner Finanzsenator und jetzige Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin. Und eines muss man ihm lassen: er hat ein Gespür für provokante Thesen, die ihm immer wieder große Aufmerksamkeit in den Medien verschaffen. Aber was will dieser Mann eigentlich, und worauf gründet sich sein Weltbild?
In seinem neuen Buch „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ verkündet er erneut seine Standpunkte. Bisher ist lediglich die Einleitung – kostenlos – verfügbar, aber das große mediale und politische Echo lässt es geboten erscheinen, allein darauf gegründet eine Rezension zu verfassen. Es handelt sich dabei um ein buntes Potpourri aus wirtschaftlichen, politischen, biologistischen und nationalistischen Versatzstücken, garniert mit diversen Ausflügen in die Geschichte - übrigens durchaus lesbar geschrieben.
Gleich zu Beginn stolpert der Leser über solche Sätze wie: „Dieser Grundoptimismus und die Jahrzehnte des fast ungetrübten Erfolgs haben aber die Sehschärfe der Deutschen getrübt für die Gefährdungen und Fäulnisprozesse im Innern der Gesellschaft“ (Seite 7). Da mag sich mancher an Julius Streichers Sprachstil im nationalsozialistischen Kampfblatt Stürmer erinnert fühlen. Aber damit nicht genug der Biologismen. Denn wir erfahren auch, dass „wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen“ (9). So ist das also. Und damit ist auch geklärt, wo unser Hauptproblem liegt: Es „gefährdet vor allem die kontinuierliche Zunahme der weniger Stabilen, weniger Intelligenten und weniger Tüchtigen die Zukunft Deutschlands“.
Die Zweckmäßigkeit solcher biologistischer Denkmuster richtet sich natürlich danach, wohin die Reise gehen soll. Problematisch ist das jedenfalls schon deshalb, weil damit scheinbare Gesetzmäßigkeiten konstruiert werden, die so gar nicht bestehen. Oder woran liegt es, dass Kinder von „weniger Intelligenten“ (will vermutlich heißen: bildungsfernen Schichten) ebenfalls tendenziell geringer qualifiziert sind? Ist das mit dem Verweis auf genetische Merkmale schon erklärt? Wohl kaum, viel eher fehlt es in solchen Elternhäusern an intellektueller Anregung. Und dem wäre ja zumindest ansatzweise mit besseren und leichter zugänglichen Bildungsinstitutionen abzuhelfen. Davon will Herr Sarrazin aber nichts wissen. Vielmehr sieht er gerade in der Suche nach gesellschaftlichen Ursachen der sozialen Missstände ein wesentliches Übel unserer Zeit, denn dadurch wäre der Einzelne systematisch von seiner Eigenverantwortung entbunden worden: „Aus der soziologisch richtigen aber banalen Erkenntnis, dass in der Gesellschaft alles mit allem zusammenhängt, hat sich eine Tendenz entwickelt, alles auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu schieben und so den Einzelnen moralisch und weitgehend tatsächlich von der Verantwortung für sich und sein Leben zu entlasten.“(10)
Durchgängig verweist der Autor auf das positive Gegenbild der „triumphalen späten fünfziger Jahre“ (16), in denen dank deutschem Fleiß eine Oase des Wohlstands und Wachstums entstand. Kein Wort freilich über den gesellschaftspolitischen Muff dieser Epoche. Offenbar lässt sich der Erfolg oder Misserfolg einer sozialen Ordnung vor allem an zwei statistischen Größen ablesen: der Geburtenrate und dem Wachstum des Bruttosozialprodukts.
Gerade angesichts der stark wirtschaftlichen Argumentation und dem beruflichen Werdegang Sarrazins verwundert es doch ein wenig, wie fahrlässig, ja grob verfälschend er mit ökonomischen Grundbegriffen umgeht. So konstatiert er, die Globalisierung habe „folgerichtig“ zu einer Stagnation der realen Stundenlöhne seit 1990 geführt. Tatsächlich ist für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft aber nicht die Höhe der Stundenlöhne entscheidend, sondern die der Lohnstückkosten. Das bedeutet nichts anderes, als dass eine hohe Produktivität entsprechende Löhne ausgleichen kann. Wenn also beispielsweise in Deutschland ein Auto mit 20 Arbeitsstunden à 20 Euro montiert werden kann, ist das Endprodukt immer noch billiger als ein vergleichbares aus, sagen wir, Rumänien mit 100 Stunden à 5 Euro. Es ist ja auch keineswegs so, dass die gesamte Wirtschaftsleistung im genannten Zeitraum nicht gestiegen wäre. Aber dieser Zuwachs an Reichtum kommt eben nicht mehr bei der breiten Masse der Bevölkerung an. Das zeigen zahlreiche Studien zum Thema ganz eindeutig. Wir haben es hier also mit einer der üblichen Milchmädchenrechnungen der Neoliberalen zu tun, die mit Hilfe von unzutreffenden Vergleichen die Notwendigkeit von „Lohnzurückhaltung“ und Bescheidenheit suggerieren wollen.
Aber neben der verschärften internationalen Konkurrenz bemüht Sarrazin zur Begründung dieses Trends auch hier wieder seine argumentative Allzweckwaffe „demografischer Wandel“ (11). Die übrigens ebenfalls aus dem Arsenal des Neoliberalismus stammt. Doch auch das kann nicht wirklich überzeugen. Schließlich nimmt der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung dank medizinischem Fortschritt, besserer Hygiene und Ernährung zu, seit es die Rentenversicherung gibt: nämlich seit dem späten 19. Jahrhundert. Aber niemand käme deswegen auf die Idee, in dieser ganzen Phase eine stetige Wohlstandsabnahme erkennen zu wollen - auch nicht der Autor. Das liegt ebenfalls an der stetig wachsenden Produktivität, die sowohl die relative Abnahme der Berufstätigen als auch die Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit mehr als kompensiert hat.
Geradezu bizarr wirkt die Verbindung von Demografie und Klimawandel. Würde sich die Fortpflanzung der Deutschen (nicht zu verwechseln mit den deutschen Staatsbürgern türkischer Herkunft) im selben Maße wie heute noch 300 Jahre fortsetzen, gäbe es dann nur noch 3 Millionen davon. Das mag man nun bedauerlich finden oder nicht. Fragwürdig ist es in jedem Fall, eine statistische Momentaufnahme über einen solch langen Zeitraum in die Zukunft fortzuschreiben. Aber das eigentliche Kuriosum ist die Schlussfolgerung daraus: „Warum sollte uns das Klima in 500 Jahren interessieren, wenn das deutsche Gesellschaftsprogramm auf die Abschaffung der Deutschen hinausläuft?“ (18) Natürlich, wir verstehen: Für unsere Nachkommen in zehn oder fünfzehn Generationen lohnt es sich, das Klima zu schonen – für die aller anderen Völker aber nicht.
Der hier anklingende Nationalismus steigert sich freilich noch zu Aussagen wie dieser: „Ich glaube, dass wir ohne einen gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation unsere gesellschaftlichen Probleme aber nicht lösen werden.“ (18) Man muss gar nicht 60 Jahre in der deutschen Geschichte zurückgehen, um ähnliche Thesen zu finden. Ein Blick in das Parteiprogramm der NPD genügt da völlig. Und so ist es auch kein Wunder, dass ebendiese braune Truppe Sarrazin herzlich willkommen heißt, wie auf tagesschau.de nachzulesen ist: „Der hessische Landesverband der NPD erklärte in einer Pressemitteilung, sie vertrete ‚genau die Positionen, die Sarrazin in seinem Buch niedergeschrieben hat’. Landesvorsitzender Jörg Krebs forderte Sarrazin auf: ‚Arbeiten Sie […] bei den Nationaldemokraten mit.’ Der sächsische NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Gansel zeigte sich erfreut über die Äußerungen Sarrazins: ‚Der Bundesbanker macht die Überfremdungskritik der NPD endgültig salonfähig’, sagte er.“
Was soll nun das Ganze? Droht hier etwa tatsächlich die Salonfähigkeit von solchen wirren Thesen, gar die Neuformierung einer starken Partei rechts der CDU? Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Nur eines ist sicher: Seit 90 Jahren hat die SPD wohl keinen derartigen Haudegen mehr in ihren Reihen gehabt. Wie schrieb doch der ob seiner skrupellosen Vorgehensweise berüchtigte Reichswehrminister Gustav Noske seinerzeit zu den ihm übertragenen Aufgaben: „Meinetwegen, einer muss der Bluthund werden.“ Nun also Sie, Herr Sarrazin?
Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Erscheint am 30. August 2010 bei DVA.
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