Jeder hat sein eigenes Stalingrad. Was ich nie begriffen hab, war, wie eine ganze Stadt eher bereit war zu verhungern, als Fronten aufzulockern. Aber das Dresdner Hochwasser hatte ich so auch nie für möglich gehalten. So viel in sich geschlossene Ignoranz hatte ich noch nie erlebt. Großwildsafari. OK, als Frank mit weitaufgerissenen Augen von der Welle, die von der Moldau her über Dresden reinbrechen wird, erzählt hatte, hab ich auch nicht geglaubt, dass Prag tatsächlich landunter war. Die Charts waren ja wie immer. Und das Radio in der Zeit war verrückt wie noch nie. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Bei jedem Schritt. Schizophren wie noch nie. Jeder Gedanke, jede Wahrnehmung, alles stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem, was ich da grad hörte. Ich konnte es mir nicht erklären. Weder, warum ich das so empfand, noch was die Grundlage für genau diese Wahrnehmung war. Manchmal hatte ich mir extra eine Gedankenkette vorgenommen, die ich Schritt für Schritt abgetastet habe, ohne sie auszusprechen, um genau die Stelle zu erkennen, in der die Stimme im Radio zu fremdeln beginnt. Aber die fremdelte nie. Gerade, als ob der, der da spricht, sieht, was ich mache. Dieses vertraute Miteinander im Studio mitten im Hochwasser. Es war so paradox. Ich konnte mir dieses Fehlen von Fremdem, von eindeutig Fremdem durch nichts rational erklären. Stalingrad. So stelle ich mir Stalingrad vor. Dieses gemeinsame Verhungern in der Kälte.
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