Der schlimmste Tag meiner Schulzeit, der mir noch heute zahllose schlaflose Nächte beschert, war der Tag als bei uns in der 7a ein grosser Klassenkampf ausbrach. 1972 war das, in der ansonsten sehr schönen Hauptschaule am Humboldtweg, an einem Sommertag, der einer der schönsten des bisherigen Sommers zu werden versprach. Doch es sollte anders kommen.
War es irgendeine perverse Art von Vorhersehung, von Schicksal gar, welches diese Mathematikstunde mit Frau Lutz, unserer honorigen aber manchmal vielleicht etwas zu resolut gouvernantenhaft auftretenden Klassenlehererin, zur Wasserscheide unserer jungen Schülerschicksale werden liess, oder, fast ebenso unglaublich, konnte es alles zufällig geschen sein?
Nun, ich fürchte ich Schweife ab.
Alles fing mit einem Tadel an.
Anton, der Junge der immer unaufmerksam war, hatte sich allzu auffällig von den am hohen Sommerhimmel dahinziehenden Fädchenwolken ablenken lassen, was Frau Lutz in grösste Rage verstetzte, da wir uns gerade die ersten Sporen in der Geometrie verdienen sollten, und jeder Träumer der jetzt zu Beginn des neuen Kapitels nicht aufpasste, würde doch unweigerlich den Anschluss verlieren. Das wollte Frau Lutz natürlich nicht.
»Anton« rief sie in scharfem Tonfall, »pass jetzt gefälligst auf! Du verträumst nochmal dein ganzes Leben!«. Ach was wäre nur gewesen, wenn es sich damit gehabt hätte, ein Rüffel unter vielen, die doch schon in der nächsten Stunde immer wieder vergessen waren. Aber nein, natürlich musste es sich zum Schlimmsten Fügen, da der alte Tunichtgut Peter, der auf der Bank hinter Anton saß, schon wieder einen dieser Tage hatte an denen er unbedingt seine Kameraden triezen musste.
Ich erinnere mich noch, just als ob dieser Moment, der nun doch eigentlich schon achtundzwanzig Jahre zurückligt, gerade erst jetzt zu dieser Minute, der Gegenwart entflohen wäre, um sich als eine Erinnerung gewordene Aneinanderreihung von inneren Bildern des geistigen Auges an dem Ort niederzulassen wo sich das Bewusstsein die Zeit als eine Permutation von visueller Information vergegenwärtigt, an die gespenstische Stille, die nach Frau Lutz harschem Tadel an Anton in der Klasse herrschte. Eine Stille die nun in dieser Mathematikstunde, wo es doch eigentlich viel Lerninhalt zu bewältigen gab, besonders träge und langandauernd in der Luft lag, da nun scheinbar auch Frau Lutz ihren mathematischen Faden verloren hatte, und sich zum Lehrerpult niederbeugen musste, um einen schnellen Blick in ihr Manuskript zu werfen.
Nun muss ich sagen dass ich wirklich, auch nach dem entsetzlichen Erlebnis dieses verzweifelten Schultages, bis heute, an das Gute im Menschen glaube, und deshalb war meine Theorie seit diesem Verhängnisvollen Tag schon immer, die, das nicht Hass und Missgunst die Triebfeder von Peter war, die ihn letztendlich zu dem fatalen Zwischenruf führen sollte, sondern einzig die Verlegenheit um der ungewohnten Situation Willen, der er den Schrecken nehmen wollte, denn eine ratlose Frau Lutz war schon immer etwas schreckliches gewesen für uns, und zwar mittels einer unüberlegten Bemerkung. Dies ist natürlich, muss ich anmerken reine Spekulation, und es kann genausogut sein, das Peter ein absichtliche Gemeinheit beging.
Jedenfalls, als Frau Lutz sich über ihr manuskript beugte, »nutzte« Peter die Gelegenheit, um Anton von hinten ein kaum verholen Schadenfroh klingendes »Ätschi!« zuzurufen. Das hätte er besser nicht getan, alle seine Kameraden hättens ihm im Nachhinein wohl sehr gedankt.
Anton, der auch schon in solch jungen Jahren eine Tendenz zum Schwermut hatte, und immer noch verärgert war über den Tadel den er gerade bekommen hatte, drehte sich mit zornesrotem Kopf um, beugte sich über seine Rückenlehne, und, rustikal wie er eben manchmal war, boxte dem verdutzten Peter zweimal kräftig auf den Arm.
Peter schrie, warf im Zorn sein zehn-zentimeter-Lineal nach vorne, in der Hoffnung Anton empfindlich zu treffen, traf aber stattdessen Antons Banknachbarn, den Frank, und das nicht zu knapp. Frank heulte auf, als er das Holzlineal mit einem grossen Beschleunigungsmoment auf seinem Hinterkopf auftreffen spürte.
Nun war auch Frau Lutz wieder auf dem Plan, und sie war schon auf dem Weg in die hinteren Reihen um diesem doch recht seltenen Schauspiel in unserer Klasse, mit aller gebotenen Strenge Einhalt zu gebieten. Doch sie kam nicht weit, denn nun geschah das Unfassbare.
Frank, den das Lineal hart getroffen hatte, rang mit den Tränen, und während er dies noch tat, kam, wahrscheinlich mit der Verzweiflung eines dreizehn-jährigen der ungerechterweise Angegriffen wird, ihm ein entsetzliches Wort über die Lippen, welches er wohl irgendwann auf dem Schulnachhauseweg von den Gammlern beim Bahnhof aufgeschnappt haben musste:
»Arschloch!«
Man hörte wie vereinzelt Füllfederhalter fallengelassen wurden. Das war aber auch alles was man jetzt noch hörte. Frau Lutz stand mit weit geöffnetem Mund, um die Nase ganz fahl. Wir Schüler wagten uns kaum zu rühren. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich Frank, der sich wohl jetzt erst langsam erst bewusst wurde was er da getan hatte. Wir hatten unsere Unschuld verloren.
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