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voice recorder schrieb am 22.1. 2003 um 18:14:20 Uhr über

Klassengesellschaft

Das Propagandatheater beschränkte sich nicht nur auf internationale Themen, sondern griff auch lokale Probleme auf. Studenten der Polytechnischen Universität von Säo Paulo setzten sich in einem Stück (Professor Vitalicio de Tal, catedrätico) mit dem verkrusteten akademischen Lehrbetrieb und dem »Miei unter den Talaren« auseinander. Natürlich waren diese Stücke überaus plakativ. Auf einem Lastwagen, in einem Zirkus mit 2ooo Zuschauern, auf einem verkehrsreichen Platz haben subtile Symbolik und psychologische Feinheiten nichts zu suchen. Diese Ästhetik ist nicht besser und nicht schlechter als jede andere. Dieses Theater ist frech, provozierend, aggressiv, derb, ästhetisch grobkörnig. Schließlich war auch die Commedia dell'arte nicht sonderlich subtil.
Die Ziele des Propagandatheaters waren klar und eindeutig: Man wollte dem Volk ein Ereignis erklären, und dabei war niemals Zeit zu verlieren. So galt es zum Beispiel, den Zuschauer zu ermutigen, einen bestimmten Kandidaten zu wählen oder sich an einem Streik zu beteiligen oder in einer bestimmten Angelegenheit der Polizei Widerstand zu leisten.


Didaktisches Theater

Ebenfalls von den Volkskulturzentren (CPC) und von professionellen Gruppen wie dem Teatro de Arena in Säo Paulo wurde didaktisches Theater versucht. Dabei ging es nicht darum, das Publikum zu einem wichtigen Ereignis zu mobilisieren - für die Wahlen, für einen Streik, für eine-Kundgebung -, sondern um theoretische und praktische Aufklärungsarbeit. Das klassische Theater, Shakesp4iare, Lope de Vega, Aristophanes, Goldoni, Machiavelli, aber auch moderne und zeitgenössische Autoren wie Brecht und Peter Weiss können hierbei hilfreich sein. Während das bürgerliche Theater besänftigende, zu Gehorsam erziehende Attitüden betont, machten wir den subversiven Gehalt klassischer Stücke wieder sichtbar.
Eines unserer Themen war die Gerechtigkeit. Es ist bekannt, daß die herrschenden den beherrschten Klassen ihre Ideen und moralischen Wertvorstellungen aufzuzwingen suchen. Sie behaupten, es gebe nur eine einzige Gerechtigkeit, wobei sie verschweigen, daß sie, die herrschenden Klassen, Recht sprechen

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und daß es ihre Justiz, ihr Recht ist, das sie durchsetzen. Geht man jedoch nicht vom göttlichen Ursprung des Rechts aus, sondern davon, daß die menschliche Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist, so leuchtet ein, daß jede Klasse ihre Auffassung von Recht hat und der Stärkere seine Justiz den anderen aufnötigt. Doch eine derart abstrakte Erklärung dringt nicht bis in die Köpfe der Massen vor. Deshalb versuchte das didaktische Theater, das Thema auf konkrete und sinnlich erfahrbare Weise den Zuschauern vorzustellen.
Drei Monate lang waren wir mit EI mejor alcalde, el Rey von Lope de Vega unterwegs. Wir spielten auf Lastwagen, in Kirchen, auf Plätzen, für Arbeiter, Bauern, Hausangestellte, Studenten usw. Im Stück liebt der junge Bauer Sancho die schöne Elvira. Sie erwidert seine Liebe, und Sancho hält bei ihrem Vater, Don Nuno, um Elviras Hand an. Don Nuno gibt seine Einwilligung, verweist Sancho aber an den Gutsbesitzer, der Herr über alle umliegenden Ländereien und also auch über das Recht ist. Do.n Tello, in seiner Großmut, beschenkt das junge Paar mit zwanzig Schafen und mehreren Kühen, mehr noch, er will selbst Trauzeuge sein. In der Nacht vor der Hochzeit sucht er das Brautpaar in dessen Zelt auf und verliebt sich, wie nicht anders zu erwarten, in die schöne Braut. Er läßt Elvira entfahren und besteht, trotz ihrer Weigerung, auf seinem Recht: dem Recht der ersten Nacht. In seiner Verzweiflung wendet sich Sancho an den König. In unserer Version des Lope-de-Vega-Stücks ist der König viel zu sehr mit seinen Kriegen beschäftigt, um sich um die Nöte seiner Untertanen zu kümmern; außerdem ist er auf Don Tellos Tr-uppenunterst..

utzung angewiesen. Sancho kehrt entmutigt heim. Da fällt seinem Freund Pelayo eine List ein. Er verkleidet sich als König, läßt Don Tello von Bauern gefangennehmen, setzt eine Gerichtsverhandlung an und spricht Recht. Seine Argumentation: Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit zu tun - der des Bräutigams und der Bauern Oberhaupt und der des Herrn und des Adels Oberhaupt. Wie kann man hier ein Urteil fällen, das beiden Parteien gerecht wird?
Die Verhandlung beginnt. Während Sancho auf dem Weg zum König war, wurde seine Braut vergewaltigt und durfte also, dem damaligen spanischen Brauch zufolge, Sancho nicht mehr heiraten. Laut Pelayos Urteilsspruch wird die Vergewaltigung durch die Heirat des Adligen mit dem Mädchen aus dem Volk gesühnt

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