Der Wochenendbesuch bei meinem Bruder verlief nahezu planmäßig. Nahezu.
Seit er im Haus unserer seeligen Eltern das Sagen hat, erkennt man sich dort kaum mehr wieder. Was wir alle begrüßen. Im Nachbarhaus wohnt jetzt Annegret S., mit der ich als Kind viel spielte. Gemeinsam in die Schule kam. Und einiges andere gemeinsam machte.
Zum Kaffee kam sie herüber, ihr Mann scheint viel verreist. Ich fragte mich, ob mein Bruder vielleicht die Gelegenheiten nutzt. Sie sah es mir an. Half mir beim Abräumen, während mein Bruder die Kinder zu ermüden suchte. In der Küche stand sie dann ganz nah vor mir.
Willst du keinen Kuss versuchen? Sie kann es immer noch wie früher. Sehr verführerisch.
Aber doch nicht am hellichten Tage. Ich ließ sie zappeln. Sie lachte. Hälst dich immer noch für was Besseres, du kleiner Scheißer?
Gut, versuchte ich also einen Kuss. Sie machte mit, ich schwöre es. Dann lehnte sie sich an den großen Kühlschrank, legte sich eine Hand auf den Bauch, sehr, sehr weit unten, schloß die Augen, schwieg einen Moment, öffnete sie wieder, und sah mich weich an.
Das tat gut. Sagte sie leise. Ich war geschmeichelt. Zu früh.
Habe ich also doch nichts verpaßt die letzten Jahre.
Ich fuhr dann schnell wieder ab. Annegret S. kann mir wirklich mal gestohlen bleiben.
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