Aecht Franck Zichorie 1828-1998
In den Regalen der Supermärkte kann man Dinge finden, von denen man kaum weiß, welche Bedeutung sie einst hatten. Vor einiger Zeit feierte solch ein Produkt Geburtstag: Der Zichorienkaffee in Tablettenform wurde 170 Jahre alt.
Wenn man einen Mitmenschen fragt, ob er soetwas gerne trinkt, muß man mit einem verständnislosen Blick rechnen, wenn nicht sogar mit mehr. Das sei doch Surrogat, Muckefuck, Blümchenkaffee — und es schmecke nicht. Doch die Zichorie will schon lange nicht mehr als Kaffeeersatz verstanden werden, sondern als Gewürz. Niemand käme auf die Idee, eines dieser Mittel — Zichorie, Feigen- oder Malzkaffee — in Reinform aufzubrühen. Letzteren gibt es fast ausschließlich als Mischung mit anderen Zutaten und zuweilen sogar mit richtigem Kaffee, Zichorie und Feigen schmecken sehr streng und sind, für sich genommen, wahrlich Geschmackssache.
Außerdem ist zu beobachten, daß die profanen Dinge wertvoll werden und die eigentlich wertvollen profan. Mittlerweile kostet ein Kilo Kaffeeersatzmischung fast soviel wie ein Kilo Kaffee, obwohl es einst einen beträchtlichen Wertunterschied gegeben hat. In der DDR und anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks hielt sich der Malzkaffee als ernstgemeinter Ersatzkaffee bis zum Schluß, weil es eine Frage der Devisen war, was man importieren konnte oder wollte. Und die gleichen Gründe waren es, die im 18. Jahrhundert zu einem Aufkommen des falschen Kaffees geführt haben. Friedrich der Große war es, der zunächst den Kaffee mit hohen Einfuhrzöllen belegte und ihn in Preußen schließlich ganz verbot. Als Folge dieser Prohibition kam der „Preußische Kaffee“ auf, der eine Mischung verschiedener Surrogate war. Die Zichorie oder Wegwarte, Cichorium intybus, war nur eines davon, seit Ende des 18. Jahrhunderts hält man sie in Kultur, um ein gutes Wurzelwachstum zu erziehlen. Die zwischen 650 und 1000 g schweren Wurzeln werden im Oktober und November geerntet, zerkleinert und geröstet, zur gepreßten Tablette ist es dann nur noch ein kleiner Schritt: Die Schnitzel werden gemahlen und gedampft, worauf man sie entweder preßt oder zu einem der verschiedenen Landkaffeeprodukte weiterverarbeitet.
„Oh Ludwigsburg, du edle Stadt, dich rühmt die Welthistoria als Hauptstadt der Cichoria!“ jubelte Friedrich Theodor Vischer im Jahre 1870 seiner Heimatstadt zu. In diese Stadt wurde 1868 von den Söhnen eines Konditors namens Johann Heinrich Franck (1792—1867), der in Vaihingen an der Enz mit der Fabrikation von Zichorienkaffee angefangen hatte, die fabrikmäßige Herstellung von Zichorienkaffee gebracht. Fabriken für „Deutschen Kaffee“ gab es jedoch schon vorher, und zwar seit etwa 1760, und die Fabrik Heinrich Francks in Vaihingen arbeitete schon seit 1828. Die Spezialität dieser Firma war es, die Zichorie nicht in reiner Form zu verkaufen, sondern mit anderen Substanzen in einem ausgewogenen Verhältnis zu mischen. Der neue Standort hatte einen Eisenbahnanschluß, und die gesamte Produktion wurde nach Ludwigsburg verlegt. Schon in der Anfangszeit arbeiteten 300 Menschen in dem Werk, dessen Röstduft, der über die Stadt zog, von den Einheimischen das“Ludwigsburger Gschmäckle“ genannt wurde. Bis zum Ersten Weltkrieg wuchs die Firma zu einem Imperium heran, das über 27 Fabriken in elf Ländern verfügte. Schon früh setzte man auf Markenartikel, von denen „Linde's“, „Kathreiner Kneipp Malzkaffee“ und „Caro“ noch heute sehr bekannt sind. Die Firmengeschichte zeigt, daß auch in dieser Sparte ein Konzentrationsprozeß stattgefunden hat: Die 1892 in München gegründeten „Kathreiner's Malzkaffee-Fabriken“ näherten sich 1912 durch eine gemeinsame Holding-Gesellschaft an Franck an und fusionierten mit der Ludwigsburger Firma im Jahre 1943. Zu dieser Zeit verfügte das Unternehmen mit neuem Firmensitz in Berlin über 33 Fabriken. 1964 entstanden die Unifranck-Lebensmittelwerke, die später zur Tochter der Schweizerischen Ursina-Franck AG wurden. 1971 schlossen sich Nestlé und Ursina-Franck zusammen, Unifranck trat der deutschen Nestlé-Gruppe bei. 1976 war die Zusammenführung unter dem Dach der Firma Nestlé abgeschlossen.
Heute steht in Ludwigsburg das modernste Kaffeemittel-Werk Europas. Auch die neuen Fertigkaffees in Tüten werden hier hergestellt. Die Aecht Franck-Zichorientabletten allerdings stellt mittlerweile ein anderes Werk her, nämlich die Günzburger Nahrungsmittelfabrik Gebr. Strehle. Weshalb ein Artikel, der auf dem Weg zur Landkaffeemischung ohnehin durch die Stationen der Ludwigsburger Fabrik wandert, als Einzelprodukt in Lizenz woanders hergestellt wird, ist rätselhaft, doch scheint sich dahinter die ökonomische Ausrichtung einer straffen Unternehmensgruppe zu verbergen.
Interessant ist die Geschichte des Gewands aller Landkaffeeprodukte. Die blauen Punkte auf der „Linde's“-Packung sind jedem bekannt, auch die anderen Markenzeichen der Firma. Tatsächlich hat das Unternehmen schon seit Anbeginn auf Marken gesetzt, um sich von der Konkurrenz abzugrenzen. Das erste Markenzeichen für Aecht Frank Zichorienkaffee war der Vaihinger Löwe, zugleich das älteste bekannte Markenzeichen in der deutschen Lebensmittelindustrie. Als er kopiert wurde, ergänzte man ihn durch Kaffeekanne und -tasse, und schließlich verwendete man die Kaffeemühle als Markenzeichen für den Artikel. Zeitgeschichte spiegelt sich auch in historischen Verpackungen und Werbemitteln, denn keineswegs sah die Zichorienpackung immer gleich aus. Es gibt noch heute in Italien eine Schachtel mit losem Zichorienpulver, die an vergangene Zeiten erinnert und stolz die Zichorienfabrik im Stil der Gründerzeit präsentiert. Die in Deutschland und Österreich verwendete, stangenförmige Packung knüpft an eine lange Tradition dieser Form an, doch gab es das Produkt auch in Spitztüten und anderen Päckchen.
„Muckefuck“ leitet sich von frz. „mocca faux“ ab und stempelt die Ersatzstoffe als falschen Kaffee ab, als kraftlose, eigenartige Substanz, die weder wach macht noch aus Arabien kommt. Doch auch wenn die Zichorie ein heimisches Produkt ist, kann man sie nicht ablehnen, wie ihre lange Geschichte zeigt. Mehr noch: Sie hat sich in der ganzen Zeit, in der Staaten und Regierungssysteme kamen und gingen, in der Goethe gelebt hat und Peter Handke, kein bißchen verändert. Und überleben konnte sie vermutlich nur, weil die Erzeuger des „falschen Kaffees“ viel dafür getan haben, das Surrogat als würzende Beigabe zu verkaufen. So gehört es zum richtigen Wiener Kaffee, daß man ihn in einer Karlsbader Kaffeemaschine zubereitet und ihm etwas Zichorie beigibt. Das mag ein schlau eingefädelter Werbetrick gewesen sein, mit dem die unzeitgemäß gewordenen Ersatzstoffe über die Verbilligung des echten Kaffees hiübergerettet werden sollten, doch wirkt sich die Beigabe auch auf die Qualität des Kaffees aus. Abgesehen davon, daß man dadurch etwas weniger Kaffee benötigt, was heute kaum mehr eine Rolle spielt, rundet diese Beigabe den Kaffee sichtlich ab. Denn Zichorienkaffee enthält Fruchtzucker und malzartige Bestandteile, die nicht nur einen weichen Eigengeschmack haben, sondern den Kaffee auch unmerklich süßen. Der Fruchtzucker der Zichorie, das Inulin, ist auch in der Topinamburknolle enthalten, die als „Süßkartoffel“ oder „Erdbirne“ recht beliebt ist und auch einen guten Schnaps liefert.
Wer glaubt, Muckefuck sei ein veraltetes schwaches Süpplein aus Großmutters Zeiten, täuscht sich. Nicht von ungefähr ist der Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp gleichsam zum Synonym eines Landkaffees geworden, und in gesunder Ernährung spielen natürliche und schonende Lebensmittel von jeher eine besondere Rolle. Durch hohe Auflagen wird eine völlige Reinheit der Produkte garantiert: Keine Zusatzstoffe dürfen hinzugemischt werden, und was man da als Instantpulver in die Milch rührt oder mit kochendem Wasser aufgießt, ist ein gesunder und kraftvoller Trank. Mehr noch: Duch die große Bandbreite verschiedener Ersatzstoffe für Kaffee, von denen neben der Zichorie der Feigen-, Malz- und Roggenkaffee genannt seien, läßt sich eine schier unbegrenzte Menge geschmacklicher Abstufungen zubereiten. Wer diese Stoffe gerne seinem Bohnenkaffee beimischt, hat schnell herausgefunden, mit welchem Mittel er eher beherzt und mit welchem eher geizig umzugehen hat. Feigenkaffee und Zichorie haben beispielsweise einen sehr bitteren Eigengeschmack, so daß man sie als Gewürz nur mit Zurückhaltung verwenden wird. Erwischt man die Menge, die gerade nich nicht durchschmeckt, kann man sicher sein, einen sehr molligen, runden Kaffee zu erhalten.
In Ferdinand Raimunds Stück „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ von 1828 wird Habakuk im 1. Aufzug, vierzehnten Auftritt, verdächtigt, jemanden umbringen zu wollen, nur weil er mit einem Messer unterwegs ist, um „einen Zichori auszustechen“. Zur damaligen Zeit war noch jedem bekannt, was das ist, und in diesem Fall benötigte die Köchin diese Wurzel. Als das Werk jedoch 1996 im Rahmen der Salzburger Festspiele mit Helmut Lohner und Otto Schenk aufgeführt wurde, war das Zichori-Stechen zum Holzhacken mutiert. Sollte damit dem Umstand Rechnung getragen werden, daß die Wegwarte heute kaum noch geläufig ist, das Holzhacken jedoch schon? Vielleicht wollte man das Stück auch etwas brisanter machen, weil bei den täglichen Greuelmeldungen der Mord mit der Axt die Gemüter noch eher erregt, als es ein Messerstich kann.
Daß ein Artikel bald zwei Jahrhunderte unverändert in den Lebensmittelregalen überlebt, hat Argumentcharakter. Es soll keineswegs gepredigt werden, Kaffee immer und ausschließlich mit Beigaben zu würzen, denn das muß jeder selber wissen und nach seinem Geschmack entscheiden. Was aber unstrittig ist: Es ist erfreulich, daß man es immerhin noch kann und geeignete Zutaten dafür findet. Allzuoft gehen die Dinge mit ihren Epochen zu Grabe und stehen dann niemandem mehr — auch keiner verschwindenden Minderheit — zur Verfügung. Hier liegen Möglichkeiten vor, etwas nach dem eigenen Gusto zu verändern, also zu würzen, und das ist auch dann noch ein Stück unserer Alltagskultur, wenn es Kaffee nur noch in Standardmischungen weniger Großfirmen, als Instantpulver oder in Getränkedosen gibt, deren Inhalt man nicht mehr richtig zubereiten muß.
|