DER HAUSSCHUH
»Wo steckst du denn?« rief der Linke. In der Wohnung in siebenten Stock drehte sich der Vati auf die andere Seite, die Mama seufzte ein bisschen und an Gregor huschte im Traum gerade ein Rennauto vorbei und hupte. Der Linke war der neue Hausschuh von Gregors linkem Fuss. Er hatte eine weisse, saubere Sohle, und er kannte die Wohnung noch nicht, er wohnte ja erst seit ein paar Stunden hier. Der Hausschuh war schüchtern und Angst hatte er auch ein bisschen. Deshalb rief er noch einmal: »Wo hast du dich versteckt?« Der Linke suchte den Rechten. Den rechten neuen Hausschuh zu seinem Paar, der jetzt irgendwo hier herumlag. Gregor hatte ihn ganz einfach in eine Ecke geschleudert. Genauso übrigens seine Hosen und das Hemd, denn Gregor war sehr liederlich. Morgen sollte der Linke zum allerersten Mal in den Kindergarten gehen. Zum ersten Mal in seinem Leben, genauso wie Gregor. Es war so finster, dass er nicht einmal seine Nasenspitze sehen konnte, und er war doch nur ein kleiner Hausschuh. Plötzlich hörte er ein Scharren. Etwas kam unter dem Schrank hervorgekrochen. Der Hausschuh machte sich ganz klein, am liebsten wäre er unter den Fussboden gekrochen. Er spürte einen Stoss, da sagte er auf alle Fälle: »Verzeihung!« »Weshalb bist du traurig, Kleiner?« »Ich bin kein Kleiner, ich bin der Linke. Der linke Hausschuh.« antwortete er nach einer kleinen Weile. »Weisst du denn, wer ich bin?« »Nicht sehr!« flüsterte der Linke. »Ein Laufschuh! Ein wunderbarer, grossartiger Laufschuh!« »Ich gehe morgen in den Kindergarten.« Der Hausschuh versuchte das Thema zu wechseln. »Ha-ha-ha!« Der Laufschuh begann zu lachen, »In den Kindergarten!« Und er hüpfte wie ein Ball in die Höhe. »Nie im Leben gehe ich in einen Kindergarten. Du weisst nicht, dass ich ein Wanderer bin! Warst du schon mal im Hof?« fragte er plötzlich. »Nein...«, erwiderte der Hausschuh so leise wie möglich. »Und im Stadion?« Der Hausschuh überlegte. Bisher war er in der Fabrik gewesen, wo sie ihn hergestellt hatten und in dem Geschäft, in dem ihn Gregors Mama gekauft hatte. Da hatte er zusammen mit dem Rechten in einer Pappschachtel im Regal gelegen und darauf gewartet, was weiter geschehen würde. »Hast du wenigstens schon mal ein Tor geschossen? Ich mindestens hundert. Torschützenkönig nennen sie mich. Ach, weisst du denn überhaupt, was ein Tor ist?« fragte der Laufschuh und scharrte auf dem Fussboden. »Ein Tor...«, sprach der Hausschuh langsam nach. »Ach, wissen Sie vielleicht, wo mein Bruder ist, Sie sind so weit herumgekommen...« »Ich war überall, mein Kleiner! Im Wald, auf der Strasse, in der Strassenbahn, im Geschäft. So bin ich eben! Ein echter, rechter Wanderer. Ich kann dir meine Hymne vorsingen. Die habe ich selbst komponiert.« Und der Laufschuh begann schauderhaft falsch, aber dafür entsetzlich laut zu singen: »Durch Gewitter, durch den Wald...« Plötzlich bellte jemand. Der Laufschuh machte sich klein und sein Schnürsenkel zog sich zu einem engen Knoten zusammen. »Das ist Aftaschek.« flüsterte er. »Ein entsetzliches Ungeheuer, er zerbeisst alle Hausschuhe, Laufschuhe und Gummistiefel.« Und so schnell er konnte, verschwand er unter dem Schrank. »Weisst du, ich habe ja überhaupt keine Angst vor ihm«, rief er nach einer Weile unter dem Schrank hervor, »aber du verstehst wohl, es hat keinen Sinn, mit solchen Typen etwas anzufangen.« Eine zottige Kugel rollte ins Zimmer. Der Hausschuh spürte, wie ihn etwas Kaltes und Feuchtes berührte. Das war Aftascheks Nase. Erschrocken begann er Reissaus zu nehmen... In diesem Moment wachte Vati auf. Seit einer Woche machte er eine Abmagerungskur. Er ass nur Quark und Äpfel, und deswegen knurrte ihm auch unaufhörlich der Bauch. Indessen sauste der Hausschuh durch die ganze Wohnung und quiekte, und Aftaschek rutschte hinter ihm her - eine richtige Jagd! »Ich werde sicher verrückt!« dachte der Vati und setzte sich auf den Bettrand. »Mein Bauch ist es bestimmt schon geworden. Er knurrt nicht einmal mehr, er quiekt nur traurig.« Auf Zehenspitzen schlich er in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, und das erste was er fand, war der Quark. Er steckte die Hand tiefer in den Kühlschrank und holte eine Konservendose hervor. Die Dose war gross, und dem Vati lief das Wasser im Munde zusammen. Aftaschek knurrte. Er war wirklich böse. Er wollte mit dem Hausschuh spielen, ihn ein paarmal in die Luft werfen und ein bisschen hin und her zausen. »Hab doch keine Angst vor mir.« bettelte er. »Ich tu dir doch nichts, Ehrenwort. Ich berieche dich nur ein bisschen«. Hätte der Hausschuh Haare besessen, sie wären ihm in dem Moment sicher vor Schreck zu Berge gestanden. Die Wohnung im siebenten Stock war wie ein Dschungel mitten in der Nacht. Bei jedem Schritt lauerte Gefahr. So schien es wenigstens dem Hausschuh. Deswegen machte er sich ganz klein, noch viel kleiner, als er eigentlich schon war, ja, er begann sogar schon zu zittern. »Und ich kriege dich!« knurrte Aftaschek und stürzte flink wie ein Düsenflugzeug auf den Linken zu. Der Hausschuh rannte blindlinks drauflos. Zuerst rutschte er auf dem Parkett aus, dann stiess er mit der Nase an etwas Hartes, und die Nase tat ein bisschen weh, nun hastete er über einen Teppich und stürzte in die Küche. Gleich darauf sprang Aftaschek herein. »Hast es wohl schon gerochen?« fragte der Vati leise und schluckte die vorletzte Sprotte hinunter. Aftaschek vergass den Hausschuh ganz und gar. Er stellte sich auf die Hinterpfoten, und von seiner Schnauze tropfte ihm Speichel. »Da hast du, du verfressener Kerl«, seufzte der Vati und gab Aftaschek das letzte Fischchen. Der Hausschuh stiess sich mit aller Kraft vom Fussboden ab. Er segelte ein bisschen durch die Luft und landete auf etwas Hartem und Kaltem. In diesem Moment machte der Vati die Kühlschranktür wieder zu. Der linke Hausschuh atmete erleichtert auf. Er befand sich in einer kalten, aber sicheren Höhle. Er schlief sofort ein... Er wurde von einem Lärm geweckt. Der Vati rückte die Möbel, die Mama warf Kleidungsstücke aus dem Schrank, und Gregor lief mit einem Hausschuh in der Wohnung umher und weinte. Es war schon so gut wie sicher, dass er heute zu spät in den Kindergarten kommen würde. »Du gehst ohne Hausschuhe«, erklärte die Mama. »Ich will nicht!« schrie Gregor. »Hör sofort auf zu weinen!« rief der Vati und guckte unters Sofa. »Ich bin hier!« rief der Hausschuh. Natürlich hörte ihn keiner. »Ich will nicht zu spät in den Kindergarten kommen. Ich gehe morgen!« heulte Gregor. »Hallo! He da!« rief der Hausschuh wieder. Da erwachte Aftaschek. Er machte ein Auge auf und erblickte ein schreckliches Durcheinander. Ein Weilchen überlegte er, dann sprang er auf seine vier Pfoten. Er stand vor dem Kühlschrank und bellte. »In die Ecke!« sagte der Vati. »Ich will nicht!« Gregor heulte noch stärker los. »Aftaschek, in die Ecke!« wiederholte der Vati. Aftaschek knurrte, und wedelte mit dem Schwanz. »Das ist doch wohl nicht möglich!« dachte der Vati, aber er öffnete den Kühlschrank. Der Hausschuh lag da, an eine Plastiktüte mit grünen Bohnen gekuschelt. Er zitterte ein wenig vor Kälte, auch ein bisschen vor Angst, na, und ein bisschen auch vor Glück. »Guten Morgen«, sagte der Linke, als er in den Schuhbeutel plumpste. »Wo warst du denn?« fragte der Rechte vorwurfsvoll. »Deinetwegen kommen wir noch zu spät in den Kindergarten.« »Aaach...« seufzte der Linke. »Ich erzähle es dir ein andermal.« »Rutsch mal ein bisschen näher ran, ich wärme dich etwas,« schlug der Rechte vor. Sie fuhren mit der Strassenbahn zum Kindergarten. Mama, Gregor und die Hausschuhe in dem blauen Schuhbeutel. Dann rannten sie noch ein bisschen. »Warum kommst du denn zu spät?« fragte die Kindergärtnerin Gregor. »Weil ich einen Hausschuh gesucht hab,« antwortete Gregor leise und wurde rot dabei.
|