Macht Cannabiskonsum dumm?
Die chronische Wirkung von Marihuana auf die Denkleistung
Dr. Franjo Grotenhermen
Die akute Wirkung von Marihuana auf Denkfunktionen ist bekannt und in ihren wesentlichen Ausprägungen in der wissenschaftlichen Cannabisforschung unumstritten. Anders sieht es aus mit möglichen langzeitigen Beeinträchtigungen der Wahrnehmungs- und Denkfunktionen durch einen langzeitigen Konsum. Bisher gibt es erst eine Längsschnittuntersuchung zu diesem Thema aus dem Jahre 1999, daneben eine Anzahl von Querschnittstudien, durch die man sich Antworten auf diese Frage erhofft.
Zu den bekannten Erfahrungen des Cannabisrausches zählen Effekte auf Wahrnehmungs- und Denkfunktionen. Dazu gehören Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, der Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit, Veränderungen der Denkprozesse mit assoziativer Lockerung, Veränderung der Wahrnehmung sensorischer Reize (Schmecken, Riechen, Sehen, Hören, Tasten) und der Zeitwahrnehmung. Diese Effekte zählen zum Teil zu den vom Cannabiskonsumenten erwünschten Aspekten des Cannabisrausches und führen andererseits dazu, dass die Fähigkeit zur Ausführung von Tätigkeiten, welche Konzentration, Aufmerksamkeit und zielgerichtetes Denken erfordern, wie beispielsweise Autofahren oder die Bewältigung anspruchsvoller mentaler Aufgaben, während des akuten Rausches herabgesetzt ist.
Bedeutung von Langzeiteffekten
Seit vielen Jahren wird in der Wissenschaft kontrovers die Frage diskutiert, ob ein regelmäßiger Cannabiskonsum die kognitive Leistung, d.h. Denken und Wahrnehmung, langfristig und dauerhaft beeinträchtigen kann. Einfach ausgedrückt lautet sie: Macht Cannabiskonsum dumm?
Diese Frage hat sowohl Bedeutung für den einzelnen Konsumenten, der Cannabis als Freizeitkonsument oder zu medizinischen Zwecken verwendet und keine Langzeitschäden wünscht, als auch für die Gesellschaft, etwa im Zusammenhang mit Fragen des Verkehrsrechts oder im Zusammenhang mit Fragen der Arbeitsleitung. Beispielsweise wird in vielen Ländern darüber diskutiert, ob chronischer Cannabiskonsum die Eignung zur Teilnahme am Straßenverkehr vermindert, und in einigen Ländern, ob Cannabiskonsum ein Verlust der Arbeitsproduktivität bewirkt. In den USA wurde in den Medien eine Größenordnung von 100 Milliarden Dollar pro Jahr an Produktivitätsverlust für amerikansiche Firmen durch Marihuanakonsum genannt, eine Zahl, die allerdings von seriöser Seite in Frage gestellt wird (Schwenk 1998).[Anmerkung: Der Chefpsychiater der Medizinischen Hochschule Hannover Professor Hinderk Emrich nennt einen deutschen, volkswirtschaftlichen Schaden durch Alkohol von 280 Millarden Mark, also ca. 140 Milliarden Dollar, und das in dem viel kleineren Deutschland!] In Deutschland und anderen Ländern droht Cannabiskonsumten unabhängig von einer akuten Konsumsituation der Verlust des Führerscheins [Anmerkung: das heisst, wenn in Deutschland jemand zB. zu Hause beim Kiffen erwischt wird, droht ihm der Verlust des Führerscheins, auch wenn er nie bekifft gefahren ist].
Drogenresteffekt oder toxischer Effekt
Heute lässt sich sagen, dass selbst starker chronischer Cannabiskonsum keine gravierende Beeinträchtigung von Wahrnehmungs- und Denkfunktionen bewirkt. [Anmerkung: man vergleiche dies mit den Auswirkungen von starkem, chronischem Alkoholkonsum!].
Wie sieht es jedoch mit geringfügigen Beeinträchtigungen aus, die nicht unmittelbar erkennbar und offensichtlich sind, sondern erst bei komplexen Aufgaben und spezifischen Herausforderungen sichtbar werden? Hier ist die Datenlage weniger klar.
Es ist bekannt, dass Cannabinoide Gehirnfunktionen über das endogene Cannabinoidsystem des Körpers beeinflussen. Es ist allerdings bisher nicht geklärt, ob dieses System und die Rezeptoren selbst durch eine lange Verwendung von pflanzlichen Cannabioniden beeinflusst werden. Bisherige Ergebnisse aus Tierversuchen deuten an, dass sich ihre Leistungsfähigkeit nicht sehr verschlechtert, jedoch ihre Arbeitsweise verändert wird. Es ist unklar, ob und wie schnell nach dem letzten Konsum eine vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes eintritt.
In den meisten Studien am Menschen, die sich mit dem Problem der Langzeitwirkung auf das Gehirn befasst haben, wurden Cannabiskonsumenten und Nichtkonsumenten verschiendenen neuropsychologischen Tests unterzogen, die beispielsweise allgemeine intellektuelle Fähigkeiten, Abstraktionsfähigkeit, anhaltende Aufmerksamkeit, verbale Gewandtheit, Gedächtnisfunktionen und Lernfähigkeit messen sollen. In einem Teil dieser Untersuchungen wurden Beeinträchtigungen bei einer Anzahl von Gehirnfunktionen festgestellt, während die allgemeine Intelligenz unbeeinflusst blieb. Die größte grundsätzlicheSchwierigkeit hinsichtlich der Aussagekraft solcher Querschnittstudien besteht in der Unklarheit darüber, ob beobachtete Unterschiede zwischen Cannabis- und Nichtkonsumenten tatsächlich auf Marihuana und nicht auf andere Faktoren zurückzuführen sind (siehe unten zu »Querschnittuntersuchungen«).
Im Falle eines echten Cannabiseffektes stellt sich die Frage, ob es sich um einen Drogenresteffekt nach dem letzten Rausch handelt oder um einen länger wirkenden toxischen Effekt auf das zentrale Nervensystem, der auch über die letzte Drogenrestwirkung hinaus anhält. Letzteres wäre insbesondere dann beunruhigend, wenn solch ein toxischer Effekt selbst über einen langen Zeitraum bestehen bliebe, als Hinweis auf eine irreversible, mit der Zeit nicht verschwindende Schädigung durch Cannabis. Betrachtet man die bisher durchgeführten Untersuchungen, so unterstützen sie einen Drogenresteffekt auf Aufmerksamkeit, psychomotorische Leistungsfähigkeit und Kurzzeitgedächtnis während einer 12- 24-stündigen Periode unmittelbar nach dem letzten Konsum, während sie keine sichere Aussache hinsichtlich einer längeren Drogenrestwirkung oder hinsichtlich eines toxischen Effektes auf das zentrale Nervensystem zulassen (Pope 1995, Solowij 1998). Aber auch der Drogenresteffet ist offenbar gering und von fraglicher Bedeutung für den Alltag.
Querschnittstudien
Eine jüngere Querschnittstudie soll kurz vorgestellt werden. Harrison Pope und Deborah-Yurgelun-Todd von der Harvard-Universität in Boston führten eine solche Untersuchung an amerikanischen College-Studenten durch (Pope 1996). Sie verglichen 65 starke Konsumenten mit 64 Gelegenheitskonsumenten, die eine Anzahl neuropsychologischer Tests ausführten. Alle waren mindestens 19 Stunden vor Absolvierung des Tests von Marihuana abstinent, da sie um 14 Uhr des Vortages der Studie eintrafen, über Nacht blieben und am nächsten Tag um 9 Uhr mit den Tests begannen. Diese haben so schöne Namen wie Stroop-Test (für Aufmerksamkeit und Gedächtnis), Wisconson-Kartensortiertest, Benton-Test für Wortgewandtheit, Wechsler-Gedächtnis-Skala, kalifornischer Wortlerntest und Rey-Osterreith-Test für komplexe Figuren.
Die starken Marihuanakonsumenten schnitten im Kartensortiertest etwas schlechter ab als die Vergleichsruppe, was als Hinweis auf eine verringgerte geistige Flexibilität interpretiert werden kann. Danach wäre starker Cannabiskonsum mit einer reduzierten Leistung in den Bereichen Aufmerksamkeit und exekutive Funktion verbunden. (mit »exekutive Funktion« wird ein Konstrukt beschrieben, das bestimte verhaltensbezogene/kognitive Fähigkeiten umfasst, zu denen Flexibilität bei Problemlösungen, fokussierte Aufmerksamkeit, Selbstkontrolle sowie Regulierung selbstgelenkter Antworten zählen.). Zusätzlich zeigten sie im Wortlerntest eine geringere Lernfähigkeit. Die Fähigkeit, neu gelernte Informationen über eine gewisse Zeitperiode zu behalten, war dagegen bei starken Konsumenten intakt. Nach Ansicht der Autoren könne Marihuana verchiedene Hirnfunktionen beeinflussen, der stärkste Effekt sei jedoch vermutlich in den Bereichen anhaltende Aufmerksamkeit und Umschaltung der Aufmerksamkeit zu vermuten.
Die beteiligten Wissenschaftler weisen in ihrem Bericht auf die grundsätzlichen mit ihrer Querschnittuntersuchung verbundene Einschränkungen hin. Dazu zählt beispielsweise die Unbekanntheit der vor dem Marihuanakonsum bestehenden kognitiven Fähigkeiten.
Dieses Problem ließe sich nur dadurch vollständig lösen, dass vor Beginn des ersten Cannabiskonsums und erneut nach mehrjährigem Konsum solche Tests durchgeführt würden. Zudem könne es sein, dass leichte Entzugssymptome nach 20-stündiger Abstinenz bestimmte Funktionen beeinträchtigt hätten. Denkbar wäre hier eine geringfühgige Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit. Dieses Problem ließe sich nach Meinung der Autoren nur durch eine längere Abstinenzdauer vermeiden. In einigen anderen Studien waren solche Abstinenzphasen eingehalten worden. Auch hier wurden zum Teil Defizite bei einigen Funktionen gemessen. So fanden zwei Studien Hinweise auf Defizite des Kurzzeitgedächtnisses bei jungen Cannabiskonsumenten, die auch nach 4- bis 6-wöchiger Abstinenz noch nachweisbar waren (Schwartz 1989, Millsaps 1994).
Längsschnittstudie
Sichere Aussagen über den Einfluss von Cannabis auf Gehirnfunktionen könnten Längsschnittuntersuchungen liefern. Bei dieser Art der Untersuchung werden die gleichen Tests zweimal oder mehrfach im Abstand von mehreren Jahren durchgeführt, um so Veränderungen über die Zeit erkennen zu können. Bisher gibt es nur eine solche Längsschnittstudie. Constantine Lyketsos und Kollegen vom John Hopkins Hospital in Baltimor führten eine solche Studie mit 1318 Personen durch, um Faktoren zu ermitteln, die die altersabhängige Abnahme der kognitiven Funktionen beeinflussen (Lyketsos 1999). In der im vergangenen Jahr veröffentlichten Untersuchung fanden sie heraus, dass diese altersabhängige Abnahme »nicht mit Cannabiskonsum asssoziiert zu sein« scheint.
Ihr Kollektiv war unterteil in starke Marihuanakonsumenten, leichte Konsumenten und Nichtkonsumenten. Alle Teilnehmer mussten in den Jahren 1981, 1982, und 1993 bis 1996 einen speziellen Test, die Mini-Mental-State-Untersuchung (MMSE) absolvieren. Der MMSE-Test stellt eine kurze und weit verbreitete standarisierte Methode zur Beurteilung der kognitiven Leistungsfähigkeit dar. Er beurteilt Orientierung, Aufmerksamkeit, unmittelbares Gedächtnis und Kurzzeitgedächtnis, Sprache sowie die Fähigkeit, einfachen gesprochenen und geschriebenen Anweisungen zu folgen. Die maximal erreichbare Punktezahl beträgt 30.
Für jeden Studienteilnehmer wurde die individuelle Punktdifferenz zwischen dem Testergebnis des Jahres 1982 und dem Testergebnis der Jahre 1993 bis 1996 berechnet. Innerhalb dieses im Mittel zwölf Jahre langen Zeitraums nahm die mittlere Punktzahl aller Teilnehmer um 1,2 ab.
Die Forscher fanden eine Abnahme der kognitiven Leistung in allen Gruppen. Es gab »keine signifikanten Unterschiede bei der kognitiven Abnahme zwischen starken Konsumenten, leichten Konsumenten und Nichtkonsumenten von Cannabis«. Im abschliessenden Bericht heisst es daher zusammenfassend, dass »diese Ergebnisse starke Hinweise für die Abwesenheit langzeitiger Restwirkungen eines Cannabiskonsums auf die Kognition darstellen«.
Leider hat auch diese Studie ihre Schwächen, so dass die zitierten, »starken Hinweise« noch kein abschließendes Urteil erlauben. Als die relevanteste, von den Autoren selbst angeführte Schwäche erscheint der verwendete neuropsychologische Test. Der MMSE ist kein sehr empfindlicher Test für die Abnahme der kognitiven Funktionen. Der MMSE kann keine komplexeren Funktionen, wie die Fähigkeit abstrakte Probleme zu lösen adäquat messen. Als die Studie in den späten 70er Jahren geplant wurde, sei der MMSE das praktischste verfügbare Instrument für eine kurze Abschätzung der kognitiven Leistungsfähigkeit gewesen. »Kleine oder subtile Effekte eines Cannabiskonsums auf Denken und psychomotorische Geschwindigkeit könnten verpasst worden sein«. Wünschenswert sind daher Längsschnittstudien, die ausreichend empfindliche Tests verwende, um so aussagekräftige Daten [Anmerkung: auch für kleine und subtile Effekte] zu erhalten.
Schlussfolgerung
Was lässt sich heute zu dieser Thematik sagen? Zunächst: Die Frage, ob chronischer Cannabiskonsum bleibende Beeinträchtigungen von Denk- und Wahrnehmungsfunktionen verursacht, ist nicht abschließend erforscht, so dass sich nur vorläufige Antworten geben lassen. Sicherlich gibt es keine groben Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen und vermutlich keine Auswirkungen auf die allgmeine Intelligenz [Anmerkung: man denke im Gegensatz dazu an die folgen chronischen Alkoholkonsums!], wie sie etwa in Intelligenztests messbar wäre. Chronischer Cannabiskonsum macht also nicht dumm [Anmerkung: und Gelegenheitskonsum deshalb schon gar nicht]. Möglicherweise könnten jedoch geringfügige Beeinträchtigungen höherer kognitiver Funktionen auftreten, die Auswirkungen auf die Bewältigung komplexer Aufgaben haben könnten. Die Alltagsrelevanz dieser Veränderungen ist vermutlich gering, aber über diese Frage wird auch in Zukunft gestritten werden.
Nadia Solowij vom Nationalen Drogen- und Alkoholforschungszentrum der Universität Sydney (Australien) befasst sich seit langem mit den Auswirkungen des Cannabiskonsums auf Gehrinfunktionen und ist eine der renommiertesten Expertinnen auf diesem Gebiet. In einem Buchbeitrag schreibt sie zusammenfassend:
»Der Langzeitkonsum von Cannabis führt nicht zu groben, kognitiven Defiziten, aber es gibt jetzt genügend Hinweise, dass er eher subtilere und selektive Beeinträchtigungen höherer kognitiver Funktionen verursacht. (...) Die Langzeitrisiken für die meisten Anwender sind nicht gravierend, und die Wirkung ist relativ gering, (...). Der Umfang der Wiederherstellung der kognitiven Funktionen ist noch unklar.« (Solowij 2000)
Abschliessender Kommentar von Legalize Österreich:
Selbst chronischer, starker Cannabiskonsum ist also keine Bedrohung für die allgemeine Intelligenz und kognitive Leistung eines Menschen. Nur bei einzelnen, höheren kognitiven Funktionen kann es zu »subitlen, geringen und nicht gravierenden« Beeinträchtigungen kommen, die zudem unter Umständen nach Absetzen des Konsums wiederherstellbar sind. Vor allem Berichte aus persönlicher Erfahrung (zB. in der Newsgroup d.s.d.) weisen darauf hin. Hier besteht jedoch sicherlich Forschungsbedarf.
Dass es jedoch (zumindest temporäre) Beeinträchtigungen gibt sollte mit obigem Text bewiesen sein. Bei chronischem, starken Konsum einer chemischen Rauschsubstanz ist dies auch nicht weiter überraschend. Überraschend ist eher die Geringfügigkeit der Auswirkungen, vor allem im Vergleich zu anderen legalen oder illegalen Rauschmittel wie dem Alkohol oder Kokain.
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Literatur:
1. Lyketsos CG, Garret E, Liang KY, Anthony JC. Cannabis use and cognitive decline in persons under 65 years of age. Am J Epidemiol
1999; 149:794-800
2. Millsaps CL, Azrin RL, Mittenberg W. Neuropsychological effects of chronic cannabis use on the memory and intelligence of
adolescents. J Child Adolesc Subst Abuse 19994;3:47-55
3. Pope HG, Gruber AJ, Yurgelun-Todd D. The residual neuropsychological effectsof cannabis: the current status of research. Drug
Alcohol Depend 1995;38:25-34
4. Pope HG, Yurgelun-Todd D. The residual cognitive effects of heavy marijuana use in college students. J Am Med Ass
1996;275:521-527
5. Schwartz RH, Gruenewald PJ, Klitzner M, Fedio P. Short-term memory impairment in cannabis-dependent adolescents. Am J Dis Child
1989;143:1214-1219
6. Schwenk CR. Marijuana and job performance:comparing the major streams of research. J Drug Iss 1998;28:941-970
7. Solowij N. Cannabis and Cognitive Functioning. Cambridge: Cambridge University Press., 1998
8. Solowij N, Grenyer BFS. Langzeiteffekte von Cannabis auf Psyche und Kognition. In: Grotenhermen, F. (Hrsg.): Cannabis
und Cannabinoide. Pharmakologie, Toxikologie und therapeutisches Potential. Huber, Bern 2000, im Druck
Der Artikel ist ursprünglich im HANF! Magazin erschienen.
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