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Yves Marquard schrieb am 29.3. 2025 um 12:32:25 Uhr über

Haltungskleid

Das Kleid, das kein Kleid sein wollte

Ein Bericht über das Haltungskleidund die deutsche Angst vor Schönheit.

Von Yves Marquard
(Schweizer. In Berlin. Noch.)



Berlin ist eine Stadt, in der Menschen sich anziehen,
als würden sie entweder gegen etwas protestieren oder sich gerade davon erholen.
Und genau hier begegnete mir ein Kleidungsstück,
das mich nicht wegen seiner Schönheit zum Innehalten brachte
sondern wegen seiner Weigerung, schön sein zu wollen.

Es war lang.
Es war grau.
Es hing wie ein Prinzip und bewegte sich wie eine Fußnote.
Die Trägerin schwebte nichtsie argumentierte.

Ich hatte das Haltungskleidgesehen.
Ein Kleid, das sich nicht kleidet,
sondern äußert.



Ästhetikverweigerung als Haltung

Das Haltungskleidist kein modisches Produkt.
Es ist ein Symptom.
Es wächst in Bildungsvierteln, auf Panels über Sprachwandel,
in Cafés, wo mehr Podcasts zitiert als Espresso getrunken wird.

Sein Stoff: biozertifizierte Selbstvermessung.
Seine Farbe:
Verzichtsgrau.
Selbstreflexionsbeige.
Diskursasche.

Es will nicht gefallen.
Es will Bedeutung tragen.
Und das tut es
in Falten, die mehr wissen als du.



Schönheit als Verdacht

In Deutschland war Stil nie leicht.
Mode ist hier ein Projekt mit Fußnoten.
Wer sich schön macht, könnte es meinen.
Und das wäre verdächtig.

Das Haltungskleidist die textile Konsequenz eines Landes,
das gelernt hat, dass Wirkung gefährlich ist.
Es verdeckt den Körper
nicht aus Scham,
sondern aus Strategie.

Seine Silhouette:
formlos, wie eine Meinung ohne Pointe.
Seine Botschaft:
Ich habe darüber nachgedacht.“



Träger*innen mit Bildungsnachweis

Das Haltungskleidist die Uniform der moralisch Überqualifizierten.
Es wird getragen von Menschen,
die in Gesprächsrunden Sätze sagen wie:
Ich möchte das kurz problematisieren.“

Es bewegt sich durch Museen, Redaktionen, Elternabende.
Es ist die textile Schwester der neutralen Stimme,
die alles weiß,
aber nichts wagt.

Dazu eine Jutetasche mit Aufdruck:
Ich konsumiere, aber bewusst.“



Der Stoff der deutschen Seele

In vielen Ländern ist Kleidung eine Verlängerung des Körpers.
In Deutschland ist sie oft eine Verlängerung der Anklageschrift.

Das Haltungskleidist das modische Manifest eines Landes,
das lieber zurücktritt als auftritt.
Es trägt kein Risiko.
Keine Farbe.
Keine Freude.

Es ist kein Kleid.
Es ist eine These mit Ärmeln.



Der Abgang

Ich sah dem Haltungskleidnach,
wie es sich durch das Café bewegte
nicht als Objekt, sondern als Haltung.

Und ich begriff:
Es ist nicht unfashion.
Es ist vorsichtig.

Denn wer wirken könnte,
könnte auch angreifbar sein.
Also entscheidet man sich lieber für Stille.
Und trägt sie.





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