Offener Brief an Dr. Jörg Haider, Landeshauptmann von Kärnten
Sehr geehrter Herr Haider,
wie Sie vielleicht aus der Presse oder von Ihren Parteifreunden wissen, hat der Theater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief als künstlerisch-politischen Beitrag zu den diesjährigen Wiener Festwochen, zwölf Asylsuchende aus Nicht-EU-Ländern zu einer an die Fernsehserie »Big Brother« erinnernden sechstägigen Performance eingeladen. Diese Veranstaltung, angesiedelt zwischen Theater und Realität, soll die vorurteilslose und sachliche Auseinandersetzung über dieses keineswegs auf Österreich beschränkte Thema fördern. Diese Auseinandersetzung möchten wir als Künstler und Politiker ohne Scheuklappen auch mit Ihnen führen. Auch, wenn uns, obwohl Sie ja auch früher einmal zum Theater wollten, wahrscheinlich nicht allzu viel verbindet, teilen wir mit Ihnen doch zumindest einen gemeinsamen Anspruch: Freie Kommunikation und direkte Auseinandersetzung auch mit dem politischen Gegner.
Deshalb möchten wir Sie im Rahmen dieses Festwochenprojektes mit dem Titel »Bitte, liebt Österreich!« für den kommenden Freitag, dem 16. Juni, ernsthaft zu einem Gespräch mit den Asylbewerbern einladen. Wenn sie aus Gründen des Proporzes zwölf junge Österreicher und Österreicherinnen, gerne auch in ihren Landestrachten, mitbringen möchten, ist uns dies selbstverständlich recht. Wir würden uns sogar sehr darüber freuen und können uns gut vorstellen, komplementär zu unserem Asylantenprojekt, per Internet und TED durch die in Europa lebenden Ausländer auch abstimmen zu lassen, wer von diesen 12 Österreichern eine Zeitlang im Ausland leben soll... (zwanglos und demokratisch). Wir wissen, dass sie in Kärnten als Landeshauptmann ihren politischen und kulturellen Verpflichtungen nachgehen müssen, dieser Termin aber erfordert ihre Teilnahme und müsste größte Präferenz haben, dient er doch zur Verständigung und Zusammenarbeit in Europa. Als Gesprächspartner stehen selbstverständlich auch die Einladenden zur Verfügung: neben Christoph Schlingensief und dem grünen Fraktionsvorsitzenden Peter Pilz auch der französische Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit, der für Freitag die Patenschaft für die Asylbewerber im Container am Herbert-von-Karajan-Platz übernommen hat. Das Gespräch soll 12.00 Uhr dortselbst stattfinden.
Vielleicht lassen die spezifischen Möglichkeiten des Kunst- und Theaterrahmens etwas zu, das im strengen Reglement des politisch kalkulierten Diskurses gewöhnlich nicht vorkommen darf: Offenheit und die Überwindung der konventionellen und nichts sagenden Formelhaftigkeit, mit der Politiker die Auseinandersetzung banalisieren und blockieren. Wir haben zwar gehört, dass sie zur Zeit eher Stille als Lärm brauchen, aber, die Nachdenklichkeit, die wir fördern wollen, gedeiht ja in der Stille, das Spektakuläre ist nur ein medialer Verstärker. Politik ist die ernsteste Sache von der Welt, aber so ernst nun auch wieder nicht, rufen wir Ihnen mit Theodor W. Adorno zu, der ein seriöser Denker und Ästhet war und freuen uns auf Ihre Zusage.
Mit freundlichen Grüßen!
Christoph Schlingensief
Daniel Cohn-Bendit
Peter Pilz
Wien, am 13. Juni 2000
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