blubb schrieb am 23.11. 2000 um 21:37:03 Uhr über
Habermas
Da ich bereits den Luhmann-Eintrag hier verbrochen hab', aus Gründen der Fairness auch noch Habermas. Aber irgendwie hab' ich grade nicht den Bock, jetzt noch was sinnvolles zu verfassen – sollen das doch andere Leute machen ;-)
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Kein Problem, hier:
Zur Person
Der 1929 in Düsseldorf geborene deutsche Philosoph und Soziologe studierte Philosophie, Geschichte und Psychologie in Göttingen, Zürich und Bonn, wo er 1954 bei E. Rothacker und O. Becker mit der Dissertation Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken zum Dr. phil. promovierte. Von 1956 bis 1959 war er Assistent am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M. und nahm dort wesentliche Impulse der Frankfurter Schule auf. Aus ihrer Tradition hat er die seine weiteren Arbeiten strukturierdende Fragestellung entwickelt, wie eine kritische Theorie der Gesellschaft beschaffen zu sein habe, die eine dem erreichten Stand sozialwissenschaftlicher Erkenntnis wie historischer Erfahrung angemessene Theorie der Demokratie darstelle. 1961 habilitierte er sich mit seiner Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit bei W. Abendroth in Marburg und wurde auf ein Extraordinariat für Sozialphilosophie nach Heidelberg berufen. 1964 erhielt er eine Professur für Philosophie und Soziologie in Frankfurt/M. Hier begann er, sich mit den in seiner Habilitationsschrift und in der 1963 erschienenen Aufsatzsammlung Theorie und Praxis umrissenen Fragen nach dem Verhältnis von technischer Realität und praktischer Vernunft sowie nach den Bedingungen konsensermöglichender Sozialformen systematisch auseinanderzusetzen. In Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Erkenntnis und Interesse und Zur Logik der Sozialwissenschaften verband H. in der 2. Hälfte der 60er Jahre seine Unterscheidung zwischen »zweckrationalem« und »kommunikativem Handeln« mit der gegen positivistische Strömungen argumentierenden These, daß es ein von Erkenntnisinteressen unabhängiges Erkennen nicht gebe. 1971 verließ er die Universität Frankfurt und wurde, gemeinsam mit C.-F. von Weizsäcker, Direktor des neugegründeten »Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« in Starnberg. Noch in Frankfurt hatte er in einer Abhandlung unter dem Titel Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, die 1971 in dem zusammen mit N. Luhmann verfaßten Diskussionsband Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? erschien, jenen Argumentationspfad skizziert, der ihn zu seiner 1981 veröffentlichten Theorie des kommunikativen Handelns führte. In Verbindung mit der Rekonstruktion einer Universal- bzw. Formalpragmatik systematisierte H. in den 1973 in Kultur und Kritik publizierten Notizen zum Begriff der Rollenkompetenz und in der 1976 erschienenen Aufsatzsammlung Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus Überlegungen zur Sozialisation und zur Entwicklung interaktiver Kompetenzen und expandierte seinen an J. Piaget und L. Kohlberg orientierten evolutionstheoretischen Ansatz in Richtung auf eine allgemeine Gesellschaftstheorie, in der die getrennten Konzepte von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik aufeinander bezogen und Handlungs- und Systemtheorie miteinander verschränkt werden. 1982 folgte H. dem Ruf nach Frankfurt/M. auf eine Professur für Soziologie und Philosophie. 1983 differenzierte er in Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln seine Konzeption mit Blick auf eine »Diskursethik«, in dem 1985 publizierten Vorlesungszyklus Der philosophische Diskurs der Moderne und der ergänzenden Aufsatzsammlung Die Neue Unübersichtlichkeit verteidigte er die »Moderne« gegen die philosophische und politische Tradition ihrer Kritiker. 1986 löste er mit seinem Artikel Eine Art Schadensabwicklung, in dem er auf den Nationalsozialismus relativierende Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung hinwies, den sogenannten Historikerstreit aus. In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistung wie seines aufklärerischen Engagements wurden H. hohe Auszeichnungen zuteil.
Werk
BEGRÜNDBARKEIT EINER KRITISCHEN GESELLSCHAFTSTHEORIE. H. hat sein bisheriges theoretisches Werk entlang der Frage entwickelt, woher eine kritische Theorie der Gesellschaft ihre Maßstäbe nimmt. Er hat diese Frage dann zu jener nach der Möglichkeit einer empirisch gehaltvoll rekonstruierbaren Begründbarkeit von Vernunft weitergeführt. Dahinter steht seine grundlegende Absicht nachzuweisen, daß Gewalt als Mittel zur Lösung von Handlungskonflikten historisch abgelöst werden könne durch den Modus vernünftiger Einigung der Bürger.
ERKENNTNISLEITENDE INTERESSEN. Den ersten Versuch einer Antwort unternimmt H., indem er den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse untersucht. Danach ist jedes Erkennen unaufhebbar von anthropologisch tief verankerten, entwicklungsgeschichtlich angelegten Interessen geleitet. In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den der historisch-hermeneutischen ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse ein. In den beiden erstgenannten Interessen drücken sich die überlebensnotwendigen Reproduktions- und Sozialisationszwänge der menschlichen Gattung aus. Das »Interesse an Mündigkeit«, durch das die Kritik an gewaltzentrierten Verhältnissen motiviert wird, verweist auf Sprache: in deren Struktur ist das Interesse an einem »allgemeinen und ungezwungenen Konsensus« angelegt. Damit hat H. jene Dimension markiert, in der er die Antwort auf seine Ausgangsfrage herausarbeitet: die gattungsspezifische Sprachkompetenz ist danach notwendige und zugleich hinreichende Bedingung dafür, daß die Menschen zur Vernünftigkeit fähig sind. Das setzt, wie er später in der Theorie des kommunikativen Handelns schreibt, dem »Paradigma der Bewußtseinsphilosophie« ein Ende, denn damit ist Intersubjektivität, die vormals bloß als Ort der Bewährung für Vernunft gegolten hat, als konstitutiv für Vernunft erkannt. Daraus ergibt sich für H. ein doppeltes Forschungsfeld: zum einen die Rekonstruktion kommunikativer Kompetenz in dem rekonstruktiven Ansatz einer Formalpragmatik, zum anderen, in einem evolutionstheoretischen Ansatz, die Analyse der historischen Formen (und deren Bedingungen), in denen sich die in jener Kompetenz angelegte Befähigung zur Vernunft verwirklicht. Dabei will H. den prozeduralen Charakter des Kantischen Vernunftbegriffs bewahren, auf dessen transzendentalen Begründungsmodus hingegen verzichten.
UNIVERSAL- BZW. FORMALPRAGMATIK. Dieses Forschungsprogramm zielt zunächst darauf ab, die universalen Bedingungen möglicher Verständigung in einer Formalpragmatik zu rekonstruieren - denn Verständigung wohnt »als Telos der menschlichen Sprache inne«. Das Verfahren der Rekonstruktion meint dabei das Explizitmachen der Strukturen und Elemente eines praktisch beherrschten impliziten Regelwissens, in diesem Falle der »universalen Geltungsbasis der Rede«. H. geht von der Sprechakttheorie aus, wie sie etwa von J. R. Searle und J. L. Austin ausgearbeitet worden ist. Sprechakte sind Handlungen, die jemand vollzieht, indem er einen Satz äußert. H. unterstellt nun, daß in der Sprache vier Klassen von Sprechakten identifizierbar sind, denen der Charakter pragmatischer Universalien eigen ist, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit verständigungsorientierten Sprachgebrauchs darstellen: Kommunikativa, Konstativa, Repräsentativa bzw. Expressiva und Regulativa. In ihnen artikulieren sich universale Geltungsansprüche, die ein Sprecher unvermeidlich jeweils mit seiner Äußerung erhebt: Verständlichkeit des symbolischen Ausdrucks, Wahrheit des propositionalen Gehalts, Wahrhaftigkeit der internationalen Äußerung und Richtigkeit in bezug auf Normen (und Werte). Die Zustimmung eines Hörers ist also gleichbedeutend mit der Anerkennung dieser von einem Sprecher jeweils erhobenen Geltungsansprüche, wobei die formalpragmatische Bedeutungstheorie davon ausgeht, daß ein Sprechakt dann verstanden wird, wenn man die Bedingungen seiner Akzeptabilität kennt. Indem ein Sprecher jene Geltungsansprüche erhebt, übernimmt er es mithin, diese im Zweifelsfalle zu begründen - man muß sich verständigen, um zu verstehen.
IDEALE SPRECHSITUATION. Nach H. stellen die vier genannten Klassen pragmatischer Universalien die zureichenden Konstruktionsmittel für den Entwurf einer »idealen Sprechsituation« dar, d.h. jener Kommunikationsbedingungen, die es erlauben, über Geltungsansprüche vernünftig zu befinden. Durch ihre strukturellen Merkmale schließt die »ideale Sprechsituation« jede systematische Verzerrung von Rede und Gegenrede aus, setzt alle Handlungszwänge außer Kraft und sichert Erfahrungsfreiheit, so daß sich einzig das »bessere Argument« durchzusetzen vermag. Danach ist die »ideale Sprechsituation« durch vier formale Eigenschaften charakterisiert: Alle Teilnehmer eines ihr gemäßen Diskurses haben die gleiche Chance, kommunikative sowie konstative Sprechakte zu verwenden, und es sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleiche Chancen haben, repräsentative und regulative Sprechakte zu verwenden. »Ideal« nennt H. diese Eigenschaften im Sinne konstitutiver Präsuppositionen. D.h. zum einen, daß jeder Sprecher, indem er spricht, sie unterstellen muß, zum anderen, daß dies nur - mehr oder weniger - kontrafaktische Unterstellungen sein können. »Ideale Sprechsituation« ist mithin der analytische Inbegriff jener Idealisierungsleistungen, die für Verständigung insofern konstitutiv sind, als die zureichende Begründung der Geltungsansprüche von ihnen nicht zu trennen ist. Mit diesem Ansatz formuliert H. zugleich eine Konsensustheorie der Wahrheit und eine kognitivistische Diskursethik: »Wahrheit« und »Richtigkeit« sind Geltungsansprüche, die sich auf Aussagen über Sachverhalte beziehen und insofern nur diskursiv eingelöst werden können. Indem H. insgesamt das normative Fundament sprachlicher Verständigung deutlich zu machen versucht, unternimmt er es, »Vernunft« als eine in den Präsuppositionen verständigungsorientierten Handelns identifizierbare kommunikative Rationalität zu begründen, welche die Kantische Differenzierung zwischen drei Rationalitätskomplexen (Wahrheit, Gerechtigkeit, Geschmack) bewahrt.
GESELLSCHAFT ALS SYSTEM UND LEBENSWELT. H. nennt vier Motive, die ihn bei seiner theoretischen Arbeit geleitet haben: Eine Theorie der Rationalität und eine Theorie des kommunikativen Handelns zu entwerfen, die Dialektik der gesellschaftlichen Rationalisierung zu untersuchen und einen Gesellschaftsbegriff zu formulieren, der System- und Handlungstheorie zusammenführt. Mit seiner Theorie kommunikativer Rationalität gibt er die Bedingungen für eine kritische Theorie der Gesellschaft an. Charakteristisch für diese Theorie ist ein zweistufiges Gesellschaftskonzept, das H. schon in Technik und Wissenschaft als »Ideologie« in Anschlag bringt und auf die Differenzierung des sozialen Handelns in kommunikatives und instrumentelles bezieht. In Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus scheidet er analytisch »Gesellschaft« in eine symbolisch strukturierte Lebenswelt und ein grenzerhaltendes System. Dabei thematisiert er unter dem Aspekt der »Lebenswelt« die intersubjektiv erzeugten normativen Strukturen einer Gesellschaft, analysiert Ereignisse und Zustände in bezug auf die durch die Orientierung von handelnden und sprechenden Subjekten erfolgende Sozialintegration. Unter dem Aspekt des »Systems« thematisiert er die Mechanismen der Steuerung einer Gesellschaft, analysiert Ereignisse und Zustände in bezug auf die durch die funktionale Vernetzung von Handlungskonsequenzen erfolgende Systemintegration. Der Prozeß der Auseinanderdifferenzierung von System und Lebenswelt gilt ihm als das wesentliche Kennzeichen sozialer Entwicklung, denn er führt zu einer Komplexitätssteigerung der Systemstrukturen und damit zu einer Erweiterung ihrer Spielräume und zu einem Rationalitätszuwachs der Lebenswelt. Aber zugleich macht H. diesen Prozeß auch durchsichtig als ein Gegeneinander von immer effektiveren Systemen, welche die Lebenswelt zu »kolonialisieren« trachten, und einem immer größeren Potential an postkonventioneller Interaktionskompetenz, das bloß faktische Strukturen durch Rechtfertigungsdruck zu rationalisieren versucht. Den doppelten Vorzug seiner Konzeption sieht er darin, daß sie es verbietet, diesen Konflikt zugunsten einer Seite aufzulösen, und daß sie zugleich einen Maßstab für die Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklung begründungsfähig angibt - die Vorstellung einer solidarischen (nicht aber konfliktfreien) Gesellschaft nämlich, in der keine Institution sich den rationalen Forderungen nach diskursiver Legitimierung auf Dauer entziehen kann. Die Pointe liegt darin, daß diese immer wieder neu ansetzende und nie zu Ende kommende Prozedur der Rationalisierung explizit und damit kritisierbar macht, was sprechende Subjekte implizit immer schon tun. Für H., der den gesellschaftlichen Lebensprozeß als einen durch Sprechhandlungen vermittelten Erzeugungsprozeß begreift, ist also kommunikative Rationalität in die Form der Reproduktion der menschlichen Gattung unabtrennbar eingelassen.
Rezeption
KONSONANZ MIT DEN THEORIEN VON KARL-OTTO APEL UND VON LAWRENCE KOHLBERG. H. und Apel stimmen in der konsenstheoretischen Auffassung von Wahrheit und Richtigkeit überein, aber H. kritisiert Apels Festhalten am Letztbegründungsanspruch der Transzendentalpragmatik als einen Rückfall in überwundene Denkfiguren: Apel stütze sich auf eine Ineinssetzung von Aussagenwahrheit und Gewißheitserlebnis, welche die Annahmen der »Bewußtseinsphilosophie« voraussetze. Anstelle des apriorischen Sinnes einer transzendentalen Deduktion stützt sich H. auf die - bewußt kritisierbar gehaltene - Hypothese, daß es zur diskurstheoretischen Argumentation keine erkennbare Alternative gebe. Das bedeutet zugleich, daß rekonstruktive Theorien auf Bestätigungen durch andere Theorien angewiesen sind. Eine solche Bestätigung findet H. in der von Kohlberg und dessen Mitarbeitern herausgearbeiteten Theorie der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit, derzufolge sich jene Entwicklung nach einem kulturinvarianten, empirisch analysierbaren Muster vollzieht, dessen normativer Bezugspunkt eine postkonventionelle Moral bildet.
DIE KRITIK NIKLAS LUHMANNS. H.' These, daß sich eine Gesellschaftstheorie nicht zureichend aus der Perspektive sozialer Systeme formulieren lasse, wird von Luhmann in Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? zurückgewiesen. Für Luhmann stellt Gesellschaft ein System dar, das mit seinen Grenzen unbestimmte, nicht manipulierbare Komplexität ausgrenzt und damit diejenigen Möglichkeiten vorstrukturiert, die innerhalb der jeweiligen Gesellschaft überhaupt wahrgenommen werden können. Die »Systemtheorie« hat sich dabei »von Vernunft und von Herrschaft emanzipiert«, sie begreift praktische Fragen über den funktionalistischen Ansatz als Fragen der Systemerhaltung zum Zwecke der Funktionserfüllung.
DIE KRITIK FRANÇIOS LYOTARDS. In La condition postmoderne (1979) und in Le Différend (1983) bestreitet Lyotard, daß es pragmatische Universalien gibt. Vielmehr lassen sich nach L. nur heterogene Sprachspiele feststellen, die durch je eigene Regeln strukturiert sind. Zwischen diesen Sprachspielen, die nicht ineinander übersetzbar seien, bestehe ein nicht zu schlichtender Kampf. Es gebe mithin kein der Sprache innewohnendes »Telos der Verständigung«, sondern nur je sich ereignende Sätze, zwischen denen Widerstreit herrsche. In dieser Perspektive einer »sprachlichen Agonistik« verbindet sich für Lyotard mit H.' verständigungsorientierter Rationalität die Gefahr eines die Pluralität der Sprachspiele gewaltsam vereinheitlichenden »Totalitarismus der Vernunft«.
R. Bambach
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