Die elektrische Großmutter
Es war ein nebliger, trüber Herbsttag.
Stefan kam nach Hause. Es wurde draußen schon dunkel und die Straßenlaternen brannten schon. Er hatte noch mit einem Freund die Mathehausaufgaben gemacht und freute sich schon sehr auf zu Hause, denn dort wartete seine Großmutter auf ihn.
Seine Eltern kamen spät von der Arbeit und so war es selbstverständlich, dass er, wenn er nach Hause kam, zuerst zu seiner Großmutter lief.
Er war gern bei ihr, denn Oma kannte so viele interessante Geschichten aus der Vergangenheit und sie konnte so herrlich erzählen. Gestern erzählte sie ihm die Geschichte von dem Bauern, der seine Dienstmagd ermordet hatte und als Strafe für seine Tat als Geist umgehen musste. Natürlich glaubte er nicht an solche Geschichten, aber interessant war es allemal. Heute nun sollte die Geschichte fortgesetzt werden.
Es war der 12. November 1956...
Viel ist seit dieser Zeit geschehen.
Stefan hat selbst eine Familie und seine Eltern wohnen in einer weit entfernten Stadt. Seine Frau bereitet in der Küche das Abendbrot zu.
Es ist der 20. Oktober 2004.
Es klappert auf dem Flur. Aha denkt Stefan, Erik ist zu Hause. Erik ist sein Sohn, der die zehnte Klasse besucht.
Erik steckt den Kopf in die Küche und ruft: „Hallo Mama, was gibt's den heute zum Essen, bring es mir bitte in mein Zimmer, Stargate fängt gleich an." Dann nimmt er sich noch die Zeit, schaut kurz ins Wohnzimmer, wo Stefan gerade die Nachrichten sieht und sagt nur kurz: “Hallo Dad, ich bin wieder da“. Stefan fragt: „Wie war's denn heute in der Schule, du kommst so spät“. „Ich war nach dem Training noch bei Klaus, wir haben eine Runde Playstation gespielt.“. „Und wie war's beim Training?“ wollte Stefan wissen. „Erzähl ich dir Morgen, jetzt will ich Stargate sehen“, Sagte es und verschwand in seinem Zimmer.
Jajaj die elektrische Großmutter dachte Stefan und schaltete auf einen anderen Kanal, da die Nachrichten zu Ende waren.
Diese beiden kurzen Geschichten zeigen, wie sehr sich das Leben in der Familie in den letzten 50 Jahren verändert hat. Einen wichtigen Platz nimmt heute das Fernsehen ein. Keine Erfindung hat zu so tiefgreifenden Veränderungen geführt. In vielen Familien ersetzt der Fernsehapparat ein Familienmitglied. Er ist ein anspruchsloses, immer einsatzbereites Familienmitglied. Er widerspricht nie und bietet Informationen so an, dass eigenes Denken nicht mehr erforderlich ist.
Mehr als früher sind heute Eltern bis zum Abend im Beruf. Wo früher die Großeltern sich in Abwesenheit der Eltern um die Kinder kümmern konnten, erfüllt diesen Zweck heute oft der Fernseher.
Sind die Eltern dann zu Hause, so ist es natürlich auch für sie viel bequemer, den Nachwuchs dem Fernseher zu überlassen, als sich selbst etwas einfallen zu lassen.
Das hat Folgen, sowohl für die Kinder als auch für Ihre Eltern.
Die zwischenmenschlichen Beziehungen bleiben auf der Strecke, und die Meinungen und Denkweisen vieler Fernsehkonsumenten werden durch die Fernsehmacher in ihrem Sinne manipuliert.
Das Fernsehen sagt, was „In“ oder „Out“ ist.
Früher hatten die Großeltern einen großen Einfluss auf die Erziehung der Kinder, heute hat diese Aufgabe zum Teil der Fernsehapparat übernommen.
Doch leider gilt hier „Masse statt Klasse“.
Viele Probleme von jungen Menschen würden nicht existieren, wenn die Erziehung nur durch Familie und Schule erfolgen würde und die „elektrische Großmutter“ nur das sein würde, wofür sie einstmals erfunden wurde: ein technischer Gegenstand zur Information und Unterhaltung.
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