Der folgende Artikel erschien am 6. Oktober 2001 in der FAZ.
Alice Miller: Woher kommt das Grauen?
In jedem noch so schrecklichen Diktator, Massenmörder, Terroristen steckt ausnahmslos ein einst schwer gedemütigtes Kind, das nur dank der absoluten Verleugnung seiner Gefühle der totalen Ohnmacht überlebt hat. Doch diese vollständige Verleugnung des erfahrenen Leidens bewirkt eine innere Entleerung, sie bewirkt auch, dass sehr viele dieser Menschen die angeborene Fähigkeit zum Mitgefühl nicht entwickeln. Menschenleben zu zerstören, sogar das eigene, entleerte Leben, fällt ihnen nicht schwer. Heute können wir die Schäden (Läsionen) in den Gehirnen der geschlagenen oder verwahrlosten Kinder auf dem Bildschirm des Computers sehen. Zahlreiche Artikel der Hirnforscher, unter anderen von Bruce D. Perry, der auch Kinderpsychiater ist, geben darüber Auskunft.
Aus meiner Sicht und aufgrund meiner Forschungen über Kindheiten der grausamsten Diktatoren wie Hitler, Stalin, Mao und Ceausescu erlebe ich den Terrorismus und die letzten Terroranschläge als eine makabre, aber präzise Demonstration dessen, was Abermillionen von Kindern auf der ganzen Welt unter dem Vorwand der Erziehung geschieht und leider von der Gesellschaft ignoriert wird. Wir haben alle jetzt als Erwachsene erfahren müssen, was viele Kinder täglich erleben. Sie stehen ohnmächtig, sprachlos, zitternd vor der unberechenbaren, unfassbaren, brutalen, unbeschreiblichen Gewalt ihrer Eltern, die sich an ihnen für ihre unverarbeiteten, weil verleugneten Leiden der eigenen Kindheit rächen. Wir müssen uns nur an unsere Gefühle vom 11. September erinnern, um uns das Ausmaß dieses Leidens vorzustellen. Wir waren alle von Grauen, Entsetzen und Angst erfasst. Doch die Zusammenhänge zwischen Kindheit und Terrorismus werden noch immer bagatellisiert. Es ist Zeit, die Sprache der Fakten ernstzunehmen.
Laut Statistik (Olivier Maurel, La Fessée, La Plage 2001) sind mehr als 90% der Weltbevölkerung fest davon überzeugt, dass man Kinder zu ihrem Besten schlagen müsse. Da fast alle von uns die aus dieser Mentalität erfolgte Demütigung erfahren haben, fällt uns deren Grausamkeit gar nicht auf. Doch nun zeigt der Terrorismus, wie früher auch schon der Holocaust und andere Formen der Menschenverachtung, welche Konsequenzen das Strafsystems hat, in dem wir aufgewachsen sind. Das Grauen des Terrorismus kann jeder Mensch am Bildschirm beobachten, doch das Grauen, in dem Kinder aufwachsen, wird sehr selten in den Medien gezeigt, weil wir alle schon in der frühen Kindheit gelernt haben, die Schmerzen zu unterdrücken, die Wahrheit zu übersehen und die grenzenlose Ohnmacht eines gedemütigten Kindes zu verleugnen
Wir kommen nicht, wie man früher meinte, mit einem fertig ausgebildeten Gehirn auf die Welt, dieses entwickelt sich erst in den ersten Jahren des Lebens. Was dem Kind in dieser Zeit zugefügt wurde, hinterlässt oft lebenslange Spuren, im Guten wie im Bösen. Denn unser Gehirn enthält das vollständige körperliche und emotionale, wenn auch nicht das mentale Gedächtnis dessen, was uns geschehen ist. Wenn keine helfenden Zeugen dem Kind beistehen, lernt es, das zu verherrlichen, was ihm geboten wurde: Grausamkeit, Brutalität, Heuchelei und Ignoranz. Weil jedes Kind nur durch Nachahmung lernt und nicht aus gutgemeinten Worten, die man ihm einzutrichtern versucht. Später wird der ohne helfende Zeugen aufgewachsene Massenmörder, Serienverbrecher, Mafiaboss oder Diktator den gleichen Terror auf ganze Völker ausüben, wenn er einmal an die Macht kommt, wie er es in der Kindheit am eigenen Leib erfahren hat. Wenn er keine Macht hat, wird er den Mächtigen helfen, den Terror auszuüben.
Leider wollen die meisten von uns diese Zusammenhänge nicht sehen, weil das Wissen darüber sie zwingen würde, ihren eigenen einst unterdrückten Schmerz zu fühlen. So bleiben sie bei der Strategie der Kindheit, bei der Verleugnung. Doch die letzten Ereignisse zeigen uns, dass die Zeit gekommen ist, in der wir so nicht weitermachen können. Wir müssen aus dem alten traditionellen System, das sich an Strafe und Vergeltung orientierte und im anderen das Böse bekämpfen wollte, herauswachsen. Selbstverständlich dürfen wir unseren Schutz nicht vernachlässigen. Aber es bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als andere als die in unserer Erziehung gelernten Kommunikationsformen zu suchen und auszuprobieren, die auf Respekt beruhen und nicht zu neuen Demütigungen führen. Man kann Menschen ausrotten, ganze Nationen, aber nicht die Folgen der Erniedrigung, die man anderen zufügt, und die sich wieder gegen uns richten werden.
Es ist höchste Zeit, aus dem langen Schlaf zu erwachen. Als Erwachsenen drohen uns nicht mehr die gleichen Gefahren der Vernichtung, die vielen von uns in der Kindheit tatsächlich, real gedroht hatten und die uns in Angst erstarren ließen. Nur in der Kindheit mussten wir verleugnen, um zu überleben. Als Erwachsene können wir lernen, das Wissen unseres Körpers nicht mehr zu ignorieren. Es kann nämlich gefährlich sein, die wahren Beweggründe unseres Handelns nicht erfassen, nicht verstehen zu können. Indessen kann uns die Kenntnis unserer Geschichte davon befreien, unbrauchbare Strategien anzuwenden und emotional blind zu bleiben. Wir haben heute die Chance, uns umzusehen, aus Erfahrungen zu lernen und neue kreative Lösungen für Konflikte zu suchen. Die Demütigung des anderen wird niemals eine wirkliche, dauerhafte Lösung bewirken, sondern - sowohl in der Erziehung als auch in der Politik - neue Brutstätten der Gewalt errichten. Auch wenn wir als Kinder nicht lernen konnten, einer respektvollen Kommunikation zu vertrauen, es ist nie zu spät, dies zu lernen. Dieser Lernprozess scheint mir eine sinnvolle und hoffnungsvolle Alternative zum Selbstbetrug mit Hilfe der Macht.
© Alice Miller
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