>Info zum Stichwort Gitarrist | >diskutieren | >Permalink 
wuming schrieb am 7.5. 2010 um 23:43:51 Uhr über

Gitarrist

Mary Halvorson - Was wird wohl passieren?
Von Rolf Thomas
Bild: Peter Gannushkin

Fangen wir mit der »ältesten« Band der knapp Dreißigjährigen an: Das Duo aus Halvorson und der Bratschistin und Sängerin Jessica Pavone existiert bereits seit sieben Jahren und hat eine profunde Entwicklung durchlaufen. »Wir waren Nachbarn, als ich nach New York zog«, erinnert sich Halvorson, die mit der Gruppe des Trompeters Taylor Ho Bynum - »Wir haben uns in der Band von Anthony Braxton kennen gelernt« - Anfang Juni auf Deutschland-Tour war. »Jessica und ich hatten gemeinsame Freunde. Wir probten viel, ohne überhaupt an öffentliche Auftritte zu denken. Die erste CD war noch voller winziger Vignetten. Jetzt, auf Thin Air, der dritten CD unseres Duos, sind es schon fast Songs - und außerdem singen wir

»Schon fast Songs« dürfte eine korrekte Selbsteinschätzung sein, denn der durchschnittliche Musikfreund dürfte auch Thin Air durchaus noch als harte Kost begreifen. Halvorsons akustische Gitarre krepelt und kratzt, und wer noch nie von John Fahey oder Derek Bailey gehört hat, wird sich wundern. »Ich liebe sie beide«, gesteht Mary Halvorson - aber mehr lässt sie sich über die offensichtlichen (?) Vorbilder nicht entlocken. Marys Impuls, mit zwölf Jahren zur Gitarre zu greifen, nachdem sie als Kind klassische Violine gelernt hat, geht ohnehin - und wie bei so vielen anderen - auf Jimi Hendrix zurück, obwohl sie erst 1980 geboren wurde.

In New York lernte Halvorson - neben Pavone - schnell andere Spielpartner kennen, wie z.B. Bassist Reuben Radding und Trompeter Nate Wooley, mit denen sie das Trio Crackleknob bildet. »Wir improvisieren kollektiv«, stellt sie klar. »Nate und Reuben sind Freunde von mir. Unser Ziel ist es, spontane Improvisationen zu kreierenDie entladen sich in kurzen, heftigen Pasticcios mit so merkwürdigen Titeln wie »In the Teeth of Ideology« oder »Libidinous Objects & The Decay of Self«, die Liner-Notes-Schreiber Michael Rosenstein an Theodor W. Adornos berühmtes Buch Minima Moralia erinnern. »Oh, das war Reuben!«, lacht Halvorson. »Die Titel sind von ihm, ich habe nichts damit zu tun. Seiner Meinung nach hörten sich die Stücke nach dem an, was die Titel sagen. Aber ich wüsste nicht unbedingt, was ich spielen soll, wenn mir jemand sagt: Los, spiel mal ›Libidinöse Gegenstände & der Verfall des Selbst‹!«

Die dritte aktuelle Halvorson-CD heißt Calling All Portraits, ist schon etwas älter und vereinigt Halvorson und Pavone mit Devin Hoff (b) und Ches Smith (dr). »Die zwei haben ein Duo namens Good For Cows, das ich sehr empfehlen kann, und wir haben uns gefragt«, führt Mary Halvorson aus, »was wohl passieren würde, wenn man ihr Duo mit dem von Jessica und mir zusammenführen würde!?« Was passierte, war ein von historischen Erfahrungen gesättigter Free Jazz, der um die Meriten der Altvorderen weiß, darüber aber nicht in Ehrfurcht erstarrt. Calling All Portraits klingt smart und weise, gleichzeitig aber so rau und kantig, wie man es aus Amerika kaum noch gewohnt ist.

Wie Crackleknob auf Hatology, so ist auch Calling All Portraits auf einem kleinen europäischen Label erschienen, nämlich auf Skycap. »Ich arbeite gerne mit vielen verschiedenen Labels zusammen«, so Halvorson. »Auf diese Weise kann ich viel mehr veröffentlichen. Europäische Labels haben einfach einen viel besseren Vertrieb - vor allem natürlich in Europa

Denn was das Business betrifft, ist es mit der jungen New Yorker Szene, die in ihren ersten Ausprägungen aber gerade in Europa wahrgenommen wird, genau wie mit der alten: Veröffentlichungen finden (in den USA) fast nur noch im Internet statt. »Es gibt keine CD-Läden in New York mehr«, sagt Mary Halvorson, »höchstens noch die ›Downtown Gallery‹, wo man fast alles kriegt. Aber was solls - man kann ja seine CDs auch beiAmazonkaufen

Weitere Bands (!), bei denen Mary Halvorson mitspielt, sind das Trio Dragon’s Head, die Avantgarde-Rockband People, Marc Ribot’s Sun Ship, Trevor Dunns Trio Convulsant oder das Trio My Ears Are Bent mit Ted Reichman und John Hollenbeck, dessen gleichnamige CD bereits vor drei Jahren auf Skirl Records erschienen ist, einem Label aus Brooklyn/NY. Die Platte ist, laut Aussage Reichmans, »ein instrumentales Rockalbum, obwohl jeder, dem ich begegne, mit dieser Klassifizierung nicht einverstanden ist. Aber ich denke, Leuten, die Robert Wyatt, Brian Eno, Augustus Pablo, Can oder DNA mögen, dürfte es gefallen. Es wurde jedenfalls gemacht wie ein Rock-Album: Mit vielen Overdubs und hingebungsvollen Nachbearbeitungen im Studio

Mary Halvorson trägt zur anti-nostalgischen, klaustrophobischen Stimmung auch dieses Albums eine Menge bei. Kollaborationen mit Tim Berne, Tony Malaby, Jason Moran, Elliott Sharp und John Tchicai, vor allem aber die langjährige Mitarbeit in verschiedenen Ensembles von Anthony Braxton haben sie geschult. Der CHICAGO READER hat sie schon als »originellste Jazzgitarristin dieser Dekade« bezeichnet, und der amerikanische Jazz-Kritiker Howard Mandel ist auch des Lobes voll: »The freshest guitar-slinger out of downtown Manhattan right now!«

Man kann nicht anders als zustimmen. Stoff zum Entdecken gibt es jedenfalls in Hülle und Fülle.


Aktuelle CDs:
Mary Halvorson & Jessica Pavone: Thin Air (Thirsty Ear / Al!ve)
Mary Halvorson, Reuben Radding, Nate Wooley: Crackleknob (Hatology / Harmonia Mundi)
Mary Halvorson, Jessica Pavone, Devin Hoff, Ches Smith: Calling All Portraits (Skycap / Rough Trade)



   User-Bewertung: /
Ist Dir schon jemals »Gitarrist« begegnet? Schreibe auf was dabei geschehen ist.

Dein Name:
Deine Assoziationen zu »Gitarrist«:
Hier nichts eingeben, sonst wird der Text nicht gespeichert:
Hier das stehen lassen, sonst wird der Text nicht gespeichert:
 Konfiguration | Web-Blaster | Statistik | »Gitarrist« | Hilfe | Startseite 
0.0137 (0.0050, 0.0073) sek. –– 848797634