»Der Gedanke an die Möglichkeit einer Vertauschung des Geschlechts hat die Phantasie vieler Völker beschäftigt, und sich gemäß der jeweils verschiedenen Geltung der beiden Geschlechter und des Geschlechtlichen überhaupt in Mythos und Volksglaube niedergeschlagen. Anormale Bildungen der Natur und irrtumreiche Beobachtungen derselben mögen dieser Vorstellung immer neue Nahrung geliefert haben; vielleicht geht schon des Hippokrates Behauptung, daß die Skythen an einer Krankheit leiden, die sie in Frauen verwandelt, auf die Beobachtung einer noch jetzt bei den Tataren bekannten Krankheit zurück, die mit Verlust der Barthaare und Verbannung der von ihr Betroffenen aus dem Kreis der Männer verbunden ist. Sicherlich haben die gelhrten Juden in Grimmelshausens Vogelnest nicht unrecht, wenn sie meinen, es wäre «in der Welt gar nichts Neues, daß weibliche Bilder geboren werden, die sich hernach, wenn sie mannbar gewesen, in Mannsbilder verändert». Kirchenväter und Inquisitoren haben über die Möglichkeit eines Geschlechtswechsels durch Teufelskunst ernsthaft nachgedacht; den gelehrten Schriftstellern des Mittelalters und bis ins 17. Jahrhundert hinauf, die dieses Thema behandeln, erscheint meist nur die Verwandlung des weiblichen in männliches Geschlecht möglich, während der Volksglaube sich gerade vorwiegend mit der Verwandlung eines Mannes in ein Weib beschäftigt und diesen Geschlechtswechsel als eine Strafe oder Untat überirdischer Wesen, als eine Schande der Unnatur oder schlechthin als Schimpf, Scherz oder Wunder verwendet. Nach weitverbreitetem Glauben (Serbien, Frankreich) soll alles Männliche, das unter einem Regenbogen hindurchgeht, sich in weibliches verwandeln und umgekehrt. Auch die wilde Johanne in Gravenhorst bei Münster wurde - wie nach westfälischem Glauben jedes Mädchen, das unter dem Regenbogen hindurchgeht - in einen Jungen verwandelt.«
HWBdA 752 - 753 (1930)
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