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walter schrieb am 4.12. 2001 um 14:50:25 Uhr über

Gesangsverein

Situative Gesänge

Für meine situativen Gesänge schlendere ich lange übers Terrain und warte
darauf, dass aus den vorgefundenen Situationen mit ihren Geräuschen und
Atmosphären Melodien aufsteigen: Schläft ein Lied in allen Dingen ... Wenn Orte
und ihre Materialien zu klingen anfangen, tauchen sie für einen Moment aus dem
Schlummer. Sie vibrieren und mit diesem Schwingen erregen sie den, der sich
tingieren lässt, der sich anrühren, in Mitschwingung versetzen lässt. Solche
aufsteigenden Melodien spiegeln oft eine Beziehung zu einer Ecke aus dem Fundus
unserer Erinnerungen. Als Sänger hat man ziemlich viele Klänge, Tonfolgen und
Texte im Kopf und so kommt es vor, dass ungefragt Fragmente im Rachen
auftauchen. Hört man genauer hin, gibt es meist eine auffindbare recht konkrete
Brücke zur Situation, die das Fragment evoziert hat. Manchmal sind diese Brücken
ganz unspektakulär. Ich komme zum Beispiel an den Gasthof zur Post in
Wessobrunn und höre in mir: Von der Strasse her ein Posthorn klingt, was hat es,
dass es so hoch aufspringt, mein Herz? Ein anderes mal sind sie kryptischer, etwa
wenn mir in der U-Bahn-Station am Kolumbusplatz Händels: Where ever you walk,
cool gales shall fan the glade ... zufällt.

Im Klingen werden aber nicht nur Gegenstände, sondern oft auch ganze Räume
präsent. Man merkt etwa beim Eintreten vom offenen Feld in den Wald am
Hall der Schritte, die plötzlich kräftiger und zugleich weicher und runder
sich anhören, dass man in einen Innenraum getreten ist. Und man hört auch, mit
etwas Übung, die Materialien: Man hört an der Art, wie die Schritte über die Wände
reflektiert in unser Ohr gelangen, ob diese Wände aus Holz, Beton oder eben
Blättern gebildet sind.

Wenn ich auf einem Terrain unter Zeit- und Erfolgsdruck hinhöre, ob bestimmte
Orte mir etwas singen, dann verstummen sie meistens ganz. Es ist, als ob das
freie Aufsteigen der Assoziationen keine Frage ertrügen. Dann geht man traurig
nach Hause und sagt sich: der Ort singt nicht. Aber, wenn man Glück hat, schüttelt
der Zug auf der Heimreise plötzlich eine Melodie zu einem der eben
durchwanderten Räume ins Bewusstsein hinauf und dann ist klar: in der Capella
Santa Barbara mit ihren aufgebahrten Skeletten in den Glassärgen werde ich
Pergolesis Lied von der nicht erwachen wollenden Nina singen, die seit Tagen im
Bett liegt.

Mit der exakten Position, von der aus ich meine Gesänge dem mitspazierenden
Publikum darbiete, definiere ich auch den Hintergrund des Gesanges, das Bild, das
Tableau, das sich den Hörenden zeigt. Meistens bilden die Zuhörer einen mehr
oder weniger weit von mir entfernten Halbkreis, sofern nicht Gelände oder Mobiliar
eine andere Form suggerieren. Was also hinter meinem Rücken erscheint wird
damit zum Bild, dessen ungefähren Ausschnitt ich durch meine Positionierung
bestimmen kann. So wie einst die Maler ihr Sujet visto dal ponte oder aber visto
dal mare präsentierten. Dieses Bild ist aber nie nur Hintergrund, vielmehr geht es
darum Nähe zu ihm zu schaffen. Das in ihm Erscheinende ist das, worum es mir
geht. Die Musik aus meinen Trichtern und der Gesang sind Vermittler zum Bild, sie
verweisen in den Bildraum, so wie sie das in Oper und Kino schon immer taten. Nur
- und das ist ein entscheidender Unterschied - ist bei den situativen Gesängen das
Bildeine reale, nie ganz zu kontrollierende Situation und nichts Vorgeführtes. So
werden hier situative Momente überschichtet von klar künstlerisch gestalteten;
das Situative ist vorwiegend optisch gegeben, das Gestaltete vorwiegend
akustisch. Aber nur vorwiegend - denn der artifizielle Sänger ist ja auch zu sehen
und natürlich gibt es auch viele Klänge und Geräusche aus der Realsituation, die
sich unter das Komponierte mischen. Und gerade in dieser Mischung besteht ein
grosser Reiz der Spaziergänge. Vorher vor Ort aufgenommene Geräusche können
an den einzelnen Stationen künstlich auf den Ort zurückgespielt werden und
treten dann in ein Wechselspiel mit den situativ zusätzlich auftretenden Klängen.
In Meran hat diese Überlagerung am besten im kleinen Gässchen von der Passer
Richtung Piazza Steinach funktioniert. Ich hatte unter die Gitarrenbegleitung zu
Bougières Ne parlons jamais d‘amour Vogelstimmen von meinem ersten Besuch
gemischt, die sich eng mit dem Realgezwitscher verflechteten. Aber unter meinen
Kunstvögeln waren auch Klänge aus der Schweiz und aus Potsdam. Ich kann alle
diese untergemischten Klänge genau datieren und geographisch zuordnen, da sie
aus meinem echotopologischen Archiv stammen. So stammt etwa das Pfeifen aus
dem Schlosspark von Sanssouci vom 14. Mai 1993 ca.15.10 Uhr - eine blinde Dame
hatte mich auf das exquisite Vögelchen aufmerksam gemacht. So entsteht also ein
Netzwerk von Zeiten und Räumen: Remixed Realities wie ein Freund diese
Schichtungen treffend charakterisiert hat.

Zwischen der Recherche und dem tatsächlichen Auftritt verändern sich die
ausgewählten Orte natürlich und sorgen dadurch manchmal für spannende
Überraschungen; so auch in MERAN. Ich entdeckte beim Nachprüfen des
ausgewählten Weges mit seinen Stationen, dass auf der Piazza Steinach plötzlich
ein akustisch durchaus potenter Betonmischer in Funktion war. Ich fragte den
Arbeiter, ob er denn um 15 Uhr herum auch noch hier sei und erzählte von meinem
Gesangs-Spaziergang. Er sei zwar wohl noch hier, würde aber die Maschine auf
jeden Fall wegräumen, sagte er lachend. Ich wollte ja bloss, dass er sie kurzfristig
abstellen würde, aber er meinte, das würde nicht schön aussehen. Als wir mit
Verspätung auf die Piazza kamen, war sonntägliche Ruhe und die Maschine gut
versteckt.

Die Passer hatte sich bei meinem ersten Besuch leise dahinplätschernd vorgestellt,
so dass ich beschlossen hatte, in der Nähe der kleinen Fussgängerbrücke, die
Sommer- und Winterpromenaden verbindet, eine ironische Bearbeitung von
Schuberts Ich hört ein Bächlein rauschen ...zu singen. Bei meinem
Testspaziergang stellte ich mit Schrecken fest, dass die Passer jetzt so laut
rauschte, dass ich mit meinem Gesang keine Chance haben würde. Ich entdeckte
einen Holzzaun, hinter dem sich ein herrlicher Garten entfaltete. In ihm war die
offensichtlich für die Pracht zuständige Person am Pflegen der Pflanzen. Nach
mehrmaligem zögernden Hin- und Hergehen vor dem Garten wagte ich zu fragen,
ob es denn hinter dem Holzzaun - wie ich vermutete - leiser sei, und erklärte mein
Problem. Mir wurde geöffnet und ich durfte die wunderbare akustische Nische am
Nachmittag für den Schubert und unser kleines Publikum benutzen.



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