Der Weg zurück
„Stillgestanden!“ Rief der Hauptfeldwebel auf dem Exerzierplatz der Kaserne. Aus der Ferne sahen die Soldaten die stattliche Statur des Hauptmanns dahereilen. „6.Kompanie vollzählig zur Verabschiedung angetreten! Herr Hauptmann.“ Schrie der Hauptfeldwebel aus vollem Halse.
„Endlich! Endlich!“,flüsterte Paul. Seit neun Monaten wartete er auf diese Worte. Er dachte an seine Freundin und daran, wie sehr ihm ihr ewiges Genörgel darüber, dass er in den letzten Monaten NIE Zeit für sie hatte, auf die Nerven ging: „Wie soll man denn auch Zeit für seine Freundin haben wenn man die ganze Woche beim Bund dient? Da hat man nun mal nur den Freitagabend und den Samstag. Hätte ich vielleicht während des Manövers mal eben aus dem Schützenpanzer anrufen sollen?
>>Hallo Schatz, wie geht’s? … Aha! … Mir geht’s gut! …
Hab gestern in der Übung einen Hasen erschossen! …
Ja mit dem Panzer! … Ja ich weiß! … Ja! … Ja! … Jahaaa!
Ich weiß, dass wir wenig Zeit für einander haben, aber was glaubst du warum ich dich anrufe? …
Ja ich weiß das, dass nicht dasselbe ist. … Ja doch! …
Bis bald, ich muss jetzt weiter! … Nein ich Muss…<<“
„…und ein schönes Leben noch hoffentlich muss ich einige von euch nie wieder sehen! WEGTRETEN!“ ,ertönte die Stimme des Hauptmanns mitten in seinen Gedanken.
„Frei! Frei wie ein Fisch im Wasser!“ ,dachte er, ging auf seine Stube, packte seine wenigen Sachen in die Tasche mit der er vor neun Monaten am Morgen nach seinem Abiball völlig verkatert in die Kaserne eingezogen war und verließ den Raum ohne sich noch einmal umzusehen.
Auf dem Weg durch die Kaserne bemerkte er, wie warm es an diesem ersten Apriltag war. Er ließ alles was er sah noch einmal auf sich wirken. Die großen blauen Garagentore, die er jede zweite Woche während seines Wachdienstes kontrollieren musste. Das Sportstadion in dem er öfter mit einer Dose Bier und einer Sportzigarette gesessen hatte, die ihm mehr als nur eine Disziplinarstrafe hätte einbringen können, wenn man ihn erwischt hätte. Die kleine Kneipe, in der das Bier und das Essen immer viel zu teuer waren. Der kleine Bunker, in dem man Deckung suchte wenn man die kleinen blauen Übungsgranaten auf Pappkameraden geschmissen hatte. „Pappkameraden“, dachte er, „Warum eigentlich Pappkameraden? Einer der Grundsätze der Soldaten ist doch Kameraden zu schützen; also hätte man sie doch vorher einsammeln müssen bevor die Granate explodierte oder nicht? „Zwiedenken“, flüsterte er wieder während er den Kopf schüttelte. Er hatte im September des vorangegangenen Jahres nach einer Übung den Fernseher auf seiner Stube angeschaltet und sah ein Hochhaus brennen er schaltete die Kanäle durch und sah immer das gleiche Bild.
Was blieb ihm anderes übrig als es sich anzusehen. Das zweite Flugzeug schlug ein. Feuer, Rauch, Staub, schreiende Menschen. Der Rest des Tages war frei. „Befohlener Freitag“, schmunzelte er, „weil in Amerika zwei Türme brannten.“ Am Abend, Antreten. Der Bataillonschef teilte den Soldaten mit, dass in Deutschland für unbestimmte Zeit die höchste Sicherheitsstufe gilt und deshalb die Wachmannschaften, welche die Kaserne beschützen sollen verdoppelt werden. „Wegen zwei eingestürzten Türmen, sieben Zeitzonen von uns entfernt.
Doppelte Sicherheitsvorkehrungen in einer Kaserne die nicht einmal in der Nähe eines Ballungsraumes liegt.“, hatte er damals zu einem Kameraden gesagt. „Ist ja jetzt auch egal. Gab immerhin doppeltes Gehalt in diesen Tagen.“, dachte er.
Vorbei an der Bibliothek, die nie ein Kamerad von ihm von innen gesehen hatte. Er stand vor dem Haus in dem sich die
Schulungsräume befanden. In der hellen Mittagssonne konnte er das Kasernentor sehen. Er lief weiter. Er sah auf der anderen Seite des Zaunes schon die neuen Rekruten herumlungern. Bepackt mit riesigen Taschen, Stereoanlagen, Mamas Brotboxen und einem riesigen Ego. Paul verabschiedete sich mit einem Nicken von der Wachmannschaft und ging durch die kleine Seitentür des Tores.
Das Taxi kam am Bahnhof an. Überpünktlich. Paul bezahlte den Fahrer, gab ihm ein kleines Trinkgeld und nahm seine Tasche aus dem Kofferraum des Wagens.
Im Bahnhof gab es ein kleines Café. Er setzte sich, bestellte ein Baguette und einen Kaffee und zündete eine Zigarette an. „Wohin jetzt?“, schoss es ihm durch den Kopf. Eine komische Situation, die Taschen voller Sold, die Dienstzeit vorbei, die Eltern im Urlaub und zu seiner Freundin zog es ihn auch nicht. „Also erstmal nach Hause, Wäsche in den Keller, waschen kann ich sie ja später.“ dachte er.
Diffuses Licht, in rosa und kaltem blau, blendete ihn beim betreten der Bar. Dicke Rauchschwaden zogen durch die Alkoholgeschwängerte Luft. Eine Band spielte am anderen Ende der Studentenkneipe. Vier Typen, die Paul nur Schemenhaft erkennen konnte. Der Raum war bedrückend voll und alles was Paul hören konnte war eine Art stimmliches Rauschen mit Hintergrundmusik. Unmöglich hier jemanden zu finden, den man erst einmal zuvor gesehen hatte. Er kämpfte sich zur Bar durch und fand sogar einen freien Barhocker. Um ihn herum standen die verschiedensten Leute; alle den Blick auf die junge Frau, auf der anderen Seite der Bar gerichtet und voller Hoffnung, dass sie als nächstes ihre Bestellung annehmen würde. Sie hatte gerade einem Typen mit Glatze sein Wechselgeld gegeben als sie nach links sah und geradewegs auf Paul zukam.
„Was darf es denn sein?“, fragte sie.
„Martini“, sagte Paul.
Das Barmädchen beugte sich etwas zu ihm hin, hielt sich eine Hand ans Ohr und sagte: „Habe ich nicht verstanden. Was wolltest du?“
Paul erhob sich von seinem Barhocker und beugte sich ebenfalls etwas zu ihr. Und sagte in der gleichen Lautstärke wie zuvor:
„Martini“.
Sie bewegte sich keinen Millimeter, schaute ihm nur in seine grünen Augen und Paul wurde unsicher. Hatte sie ihn etwa immer noch nicht verstanden? Worauf wartete sie denn? Er grübelte.
„Einen Martini, BITTE!“, sagte sie.
„Oh, entschuldige, natürlich: Einen Martini, Bitte!“, Paul lächelte verlegen, setzte sich wieder auf den Hocker und rieb sich die Augen. Als er wieder aufsah, stand das Glas vor ihm auf dem Tresen.
Er nahm einen Schluck, schaute der Barkeeperin in die Augen und sagte:
„Mit Eis, kann ja keiner trinken, wo lagert ihr das Zeug denn? Etwa hinter dem Kühlschrank? Im Ofen?“
Für eine Sekunde betrachtete sie ihn argwöhnisch und entgegnete keck: „Am Vorhof zur Hölle“ während sie dies sagte, schaufelte sie die Eiswürfel ins Glas und gab mit einem hinreißenden Lächeln noch eine halbe Zitronenscheibe dazu.
„Wohlsein“
„Hola Amigo“ die starke Hand des Lateinamerikaners fuhr auf seine Schulter nieder. Paul drehte sich zur Seite und sah in Pedros dunkles Gesicht.
„Hola! Hast mich ganz schön erschreckt, bist du schon länger hier?“
„Näh! Bin gerade erst rein. Hab doch gesagt das ich so gegen acht da bin!“
„Acht? Pedro, es ist fast neun!“
„Naja! Meinte ich doch.“, sagte Pedro und starrte ihn an.
„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Paul. Es vergingen einige Sekunden und Paul überlegte, ob er möglicherweise wieder zu leise gesprochen hatte und setzte zu einem neuen Versuch an, als Pedro sich zu ihm drehte und mit einem genüsslichen Lächeln antwortete:
„Erstmal ´nen Brandy!“
„Brandy?“
„Brandy!“
„Ist doch voll übel das Zeug“, Paul rümpfte die Nase und schüttelte sich.
„So? Und Wermut ist besser ja?“, fragte Pedro während er mit einem Finger auf Pauls Glas deutete und mit der anderen Hand das Barmädchen zu sich wank.
„Wermut?“, fragte Paul verdutzt.
„Wermut!“
„Ich trinke Martini, Pedro“
„Meinte ich doch!“
Paul fiel auf, dass Pedro immer dann die Phrase meinte ich doch verlauten ließ, wenn er keine Lust hatte sich weiter über eine Sache zu äußern. Da er des Deutschen erst seit zwei Jahren mächtig wahr, viel es ihm schwer, eine Argumentationslinien so kunstvoll auszustaffieren, wie er es in seiner Muttersprache ständig tat. Aus diesem Grund, suchte er in allen Buchläden, die er finden konnte, nach einem Argumentationswörterbuch. Spanisch- Deutsch versteht sich.
Sie tranken ihre Gläser leer und bestellten noch einmal dasselbe, Pedro Brandy und Paul Martini mit Eis und Zitrone.
Jedes mal wenn das Barmädchen vor ihnen stand, lösten sich alle Gedanken in Pauls Kopf auf und die Fähigkeit sich verbal auszudrücken, erstarb. Längst war es nicht mehr nötig, irgendetwas zu sagen, wenn er bestellte. Das Mädchen hinter der Bar wusste ja was er wollte. Trotzdem, immer wenn er sein gefülltes Glas vor sich stehen sah, explodierten kleine Blasen in seinem Kopf, die Fragen in seine Gehirnwindungen entließen. Wie heißt du? Was machst du wenn du nicht hier arbeitest? Ist das Atemraubende rot deiner Haare natürlich oder verdammt gut coloriert? Wollen wir nachher ´nen Kaffee trinken gehen?
Paul nahm eine Zigarette und klopfte sie zweimal auf die Schachtel, das hatte er sich irgendwann in den letzten neun Monaten angewöhnt. Er fingerte in seiner Jackentasche nach seinem Feuerzeug und drehte einmal, zweimal, dreimal am Rad, klopfte das Feuerzeug auf den Tresen, schüttelte noch einmal kräftig. Nichts.
„Verdammt nochmal! Blödes Scheißteil!“, schrie er.
„Nenn mich Tanja.“ Erklang es in seinem rechten Ohr.
Paul fuhr zusammen und ließ den Kopf in die Richtung herumfahren, aus der er die Stimme vernahm.
Er schaute in ein Paar kugelrunder, Stahlblauer Augen, unter denen sich eine Stupsnase und ein Erdbeerroter Mund befanden. Paul richtete seinen Oberkörper auf und richtete seinen Blick, auf ihre blonden Haare, die kunstvoll hochgesteckt waren.
„Was?“, fragte er und ihm fiel auf, wie schwer er für ihn war in seinem Zustand allein dieses eine Wort über die Lippen zu bringen.
„Wie bitte?“, sagte der Erdbeermund, von dessen Anblick er sich nicht lösen konnte.
„Was? Wie bitte?“
„Es heißt: Wie bitte!“
„Wie jetzt?“, Paul kratzte sich am Kopf und vermutete, dass er ein lächerliches Bild abgab.
„Hallo mein Name ist Tanja!“
Paul fragte sich warum sie gerade ihn ansprach. Er hatte den ganzen Abend wie ein Schluck Wasser an der Bar gehangen und ohne Unterbrechung Martini in sich hineingeschüttet. Was wollte diese Frau von ihm?
„Hast du Feuer?“
Nachdem er diesen Satz dahin gestammelt hatte, wunderte er sich warum er gerade jetzt, wo diese Schönheit vor ihm stand, nach Feuer fragte. Er hatte aus hunderten von Fragen, die ihm eingefallen währen, währe er nüchtern gewesen nur noch die eine Frage im Kopf, die sein derzeitiges Problem lösen konnte.
„Ein Feuerzeug?“, fragte Tanja, nur um sich zu versichern, dass sie ihn richtig verstanden hatte.
„Ja muss man studiert haben um mit dir zu sprechen?“, entgegnete Paul forsch.
Tanja wich verunsichert einen Schritt zurück.
Paul erschrak vor sich selbst. War er denn von Sinnen? Dieses Mädchen hatte ihm nichts getan; sie hatte ihn nicht angegriffen, nicht schief angeschaut oder sich über seinen Atem beschwert. Paul realisierte, dass es an der Zeit war, die Sache richtig zu stellen.
„Ich, ich….“, er räusperte sich.
„Was ich… ich?“, entgegnete Tanja sichtlich verletzt.
„Entschuldige bitte!“, sagte Paul so einfühlsam wie es ihm jetzt möglich war „ich wollte dich nicht so anfahren, muss mich erst mal wieder daran gewöhnen das ich nicht mehr beim Militär bin. Bin erst seit einer Woche wieder in der Stadt.“
„Aha!“
„Ach übrigens, das hier ist Pedro!“, Paul lehnte sich etwas zurück, so dass Tanja seinen Begleiter sehen konnte.
„Hallo Pedro, ich bin Tanja“, sie gab Pedro die Hand.
„Hola Tanja!“, grinste Pedro.
Immer noch befanden sich die Hände vor Pauls Oberkörper und als er nach links zu Pedro und nach rechts zu Tanja sah, wurde ihm schlagartig klar warum sie ihn angesprochen hatte.
Sie hatte die ganze Zeit nur für Pedro interessiert und ihn benutzt, so dass er die Brücke für sie zu ihm schlagen würde.
Pedro und Tanja schauten sich immer noch an und hielten sich immer noch an den Händen, so dass Paul sich wirklich wie eine Brücke fühlte. Er mochte dieses Gefühl nicht, also nahm er die beiden Hände an den Handgelenken, hielt sie etwas nach oben, so dass er unter ihnen hindurch schlüpfen konnte. Er achtete darauf, dass er sie nicht trennte, denn er wollte die beiden auf keinen Fall unterbrechen.
An Pedros Blick konnte er erkennen, dass Tanja ihm gefiel.
Und Pedro gefiel ihr.
Paul hatte die ganze Zeit über die Zigarette im Mund die wie ihm jetzt auffiel immer noch nicht brannte.
„Was muss man in diesem Laden tun um Feuer zu bekommen?“, rief er der Barkeeperin zu.
„Nett fragen!“, sagte sie während sie verschmitzt lächelnd auf ihn zukam. Nie wieder im Leben, so dachte Paul würde er dieses Lächel, das sie ihm den ganzen Abend, ohne dass er einen Grund dafür sah, zukommen ließ, vergessen.
„Nett fragen! Hätte ich auch drauf kommen können! Hast du mal Feuer?“
„Das nennst du also nett?“, sie konnte es nicht fassen. Da schlug sie ihm schon den ganzen Abend über den Zaunpfahl, ach was den ganzen Lattenzaun, um die Ohren und dieser Kerl kapierte es anscheinend immer noch nicht. Alles was sie wollte war, dass er ein klitzekleines >>Bitte<< über die Lippen brachte.
Sie sah ihm in die die Augen, wie sie es schon bei seiner ersten Bestellung getan hatte, nur dass sie diesmal ihre sauber in Form gezupften Augenbrauen leicht anhob.
Ihm wurde heiß und kalt als sie ihn so ansah.
„Bitte! Ein Feuerzeug.“, er konnte in ihrer Gegenwart kaum einen Satz sprechen, ohne sich wie ein kompletter Vollidiot zu fühlen. Ihm war natürlich aufgefallen, dass diese Frau sich für ihn interessierte. Warum? Das wusste wohl nur sie allein.
„Na klar doch!“, sie hielt ihm das brennende Feuerzeug entgegen und er konnte endlich seine Zigarette rauchen.
„Noch ´nen Martini?“
„Klar doch! So wie die letzten!“ Sie sah ihn wieder fordernd an. Paul atmete den Rauch aus und sah sie an.
„Bitte!“, fügte er verlegen hinzu.
Irgendetwas an dieser Frau faszinierte ihn. Die Art wie sie die Getränke machte? Wie sie sich bewegte? Ihr Lächeln? Wie sie ihn ansah mit ihren Augen, die irgendeine Mischung aus rosa und blau waren. Der nach einem >>BITTE<< fordernde Blick?
Er zog an der Zigarette, trank den Martini in einem Zug aus, stellte das Glas auf den Tresen und lehnte sich, während er den Rauch genüsslich durch die Nase ausatmete, weit zurück.
Sein Schädel dröhnte. Alles hörte sich an wie durch die Ohrenstöpsel die er bei den Schießübungen tragen musste. Irgendwie dumpf. Wie ein waberndes Rauschen.
Um ihn wurde es lauter. Er blickte auf und sah alles durch einen milchigen Schleier.
„Hey! … Hey du! Was ist mit dir?“
„Es heißt –wie bitte-!“, stöhnte Paul
„Was heißt wie bitte?“
„Autsch! Mein Kopf!“
„Hätte ich ja nicht gedacht!“
„Wie bitte?“
„Es heißt Was!“, kicherte die Stimme.
„Was?“
„Ja! Was! Hätte ich ja nicht gedacht, dass ich dich so vom Hocker haue! Tut´s noch weh?“
„Mir ist irgendwie kalt. Mein Kopf friert. Was ist denn passiert?“
„Hab ich doch schon gesagt.“, das Kichern war verschwunden und einer sanften ruhigen Stimme gewichen.
„Was?“
„Richtig“
„Wie bitte?“, Paul verstand nichts mehr.
„Setz dich erst mal! Du bist nach hinten übergefallen. Platsch, hat´s gemacht und du lagst da wie ein Käfer auf dem Rücken.“
„Aha!“
„Du warst ganz schön lange Bewusstlos, ich dachte schon ich muss den Krankenwagen rufen. Aber dir geht’s ja schon besser, oder?“
„Ja! War ´ne gute Idee die Eistüte. Danke schön!“, Paul sah in ihre Augen. Sie waren grün.
„Ich hab Feierabend. Lass uns gehen.“
„Wohin?“
„Erst mal raus hier.“
Sie half ihm auf und Paul bemerkte, dass er nicht mehr in der Bar war, sondern im Getränkelager. Die beiden verließen die Bar, er schwankend und immer noch etwas benommen, sie mit leichtem geschmeidigem Gang.
„Wie heißt du eigentlich?“, ihre Stimme klang warm und beruhigend.
„Paul“ antwortete er einsilbig. Sein Kopf dröhnte immer noch.
Hast du ne Aspirin? …Oder besser, …zwei?“
Sie öffnete ihre schwarze aus Drillich gefertigte Tasche. Er kannte diesen Stoff nur zu gut, denn er hatte ihn die letzten neun Monate tragen müssen. „Der wird nur weich wenn er lange getragen wird.“, bemerkte er.
„Wie bitte?“
„Der Stoff, er wird nur weich wenn man ihn lange trägt.“, sagte er während er auf die Tasche zeigte.
Sie lächelte und suchte weiter.
„Hab sie!“ sagte sie und wedelte mit dem Päckchen.
„Zwei, ja?“
„Bitte.“, Paul nahm die zwei kleinen weißen Pillen in seine Hand, unsicher wie er sie jetzt einnehmen sollte.
„Warte ich habe noch eine Flasche Wasser.“, sagte sie, nachdem sie bemerkte, dass Paul die Tabletten immer noch in der Hand hielt, fischte die Flasche aus den Tiefen ihrer Tasche und öffnete sie.
Paul legte die zwei Tabletten auf die Zunge und nahm einen großen Schluck aus der Flasche.
„Danke! Ist echt nett von dir.“, sagte Paul und konnte ein Lächeln auf ihrem Gesicht sehen, obwohl sie im Schatten stand.
„Wie war dein Name doch gleich noch mal?“, fragte er, da er sich nicht erinnern konnte, ob er sie schon gefragt hatte.
„Wie? Nochmal! Ich habe ihn dir noch gar nicht gesagt.“
„Ist auch gut.“, antwortete Paul und hielt sich mit beiden Händen den Kopf.
„Geht es dir wirklich gut?“, fragte sie aus dem Schatten heraus.
„Wird wohl gleich besser sein.“, entgegnete er hoffnungsvoll.
Paul fühlte sich in ihrer Gegenwart sicher. Dieses Mädchen strahlte eine Ruhe aus, wie er es noch nie in seinem Leben gefühlt hat. Er fühlte, wie das Blut in seinen Adern rauschte, beflügelt von ihr und den Tabletten. Er atmete tief ein und aus. Mit jedem Atemzug den er tat, fühlte er sich besser. Sie standen immer noch unter der Laterne vor der Kneipe als er sah, dass sie langsam die Treppen herunter ging, sich zu ihm drehte und ihm mit einer Seitwärtsbewegung ihres Kopfes bedeutete ihr zu folgen. Er ging auf sie zu, während sie am Fuß der Treppe auf ihn wartete. Woher nahm sie die Kraft, sich nach einer acht Stunden Schicht noch um einen völlig kaputten Typen zu kümmern den sie dazu noch nicht einmal kannte.
Fragen würde er sie das jetzt nicht, er war froh, dass sie da war, Pedro war wohl schon vor einiger Zeit mit Tanja gegangen, jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, dass er sie noch einmal gesehen hatte, nachdem er sich der beiden entledigt hatte.
Sie liefen durch das Nächtliche Potsdam, die Strassenlaternen tauchten die, in wabernden Nebelschwaden liegende, Stadt in goldenes Licht.
Paul hatte keine Ahnung wohin diese rothaarige Schönheit ihn führen würde und doch blieb er dicht neben ihn. Sie sprachen kein Wort, beide in dem Wissen, dass das Gold ihres Schweigens diesen Moment zu einem besonderen machte.
Als sie die Brandenburger Straße durch das Brandenburger Tor in Richtung Luisenplatz verließen, sah er, dass dieser einst so hässliche Platz einem mit kleinen roten Steinen gepflasterten Platz gewichen war, in dessen Mitte Paul ein Bassin mit einer Düse erkannte. Er beschloss, diesen Platz gleich am nächsten Tag noch einmal aufzusuchen, um sich die Fontäne anzusehen. Sie erreichten ein großes Tor, das Paul als Grünes Gitter kannte. Es war geschlossen. Er betrachtete das Tor; saugte jedes Detail in sich ein und ein Gefühl von Unsicherheit kam in ihm auf, als es ihm erschien, als würden die grünen Stangen mit ihren goldenen Zapfen sich in Dornenbewehrte Ranken verwandeln, welche sich ihm und seiner Begleiterin entgegenstreckten. Seine Knie wurden weich und er rieb sich die Augen. Froh, dass sich alles nur als Hirngespinst herausstellte als er wieder aufblickte, wandte er sich dem Mädchen zu und als hätte sie seine Gedanken gelesen, drehte sie ihren Kopf nach links und ihre Blicke trafen sich.
„Was nun?“, fragte Paul flüsternd.
„Wir gehen da rein!“, sie hielt kurz inne und sah sich um, “Hier rechts das kleine Gitter in der Mauer ist immer offen.“
Sie nahm ihn an die Hand und schritt auf das Loch in der Mauer zu, betätigte die Klinke und das Gitter öffnete sich mit quietschenden Scharnieren.
Hinter der Mauer eröffnete sich ihnen ein abgetrennter Teil des Schlossparks, in den das Licht der Laternen nicht vorzudringen vermochte. Zur ihrer Linken befand sich ein Kirchturm, zur Rechten einige Büsche und ein Weg der um den kleinen Teich führte, umsäumt von ausladenden Weiden, deren Zweige bis hinab in den Teich hingen. Sie gingen einige Meter, vorbei an einer mächtigen Platane und links durch den Torbogen Hier befanden sich in einem von offenen Gängen durchzogenen Lichthof, dessen Sandsteingemäuer das kalte Mondlicht in pures Feuer verwandelte.
Sie ließen sich auf einer kleinen Terrasse am Teich nieder, dessen leichte Wogen das Mondlicht in kleine silbrige Nadeln brach. Aus der Ferne drang das Lied der Nachtigall zu ihnen hinüber und die Frösche am Ufer stimmten leise mit ein.
Sie suchte in ihrer Tasche und nach einigen Sekunden zog sie ein Etui hervor, öffnete es und hielt ihm einen Joint entgegen.
„Möchtest du?“, fragte sie vorsichtig, gewahr der Vermutung, dass es seinem angeschlagenen Kopf möglicherweise nicht gut tun würde.
Aber Paul hielt es für eine gute Idee, in einer Nacht wie dieser mit ihr zu rauchen und das Gefühl, das er in diesem Moment hatte in sein Gedächtnis einzubrennen und als ersten wunderbaren Moment seit der Trennung von seiner Freundin vor vier Monaten, zu manifestieren.
„Gerne!“, sagte er und war froh, dass sie noch ein Stückchen näher an seine Seite rückte. Er hatte vermutet, dass sie in einer kalten Nacht wie dieser, sicher frieren würde, als er aber ihr Bein an seinem spürte, ergriff ihre Wärme auch ihn.
Er nahm sein Feuerzeug aus der Jackentasche, schob den Joint zwischen die Lippen, öffnete die Klappe des Feuerzeugs, drehte das Rädchen, und zündete ihn an.
„Aha mal wieder der alte Trick mit dem Feuerzeug!“ schmunzelte sie.
Paul nahm noch einen Zug und reichte ihr den Joint.
„Wie meinst du das? Der alte Trick mit dem Feuerzeug?“, erkundigte er sich während er den Rauch langsam ausatmete.
„Du hast mich doch vor hin nach Feuergefragt.“ antwortete sie und lächelte immer noch ihr zufriedenes Lächeln. Paul hatte zuerst befürchtet, dass sie ihm einen Vorwurf machen wollte, erkannte aber an der Art wie sie ihn ansah, dass sie keinerlei solche Absichten verfolgte.
„Hab ich?“, er dachte kurz nach und erinnerte sich,
“ …Stimmt hab ich! Ging vorhin irgendwie nicht.“
„Wenn du es sagst.“
„Wie wenn du es sagst? Ich sag es doch!“
„Ich weiß.“, sagte sie und steckte den Joint zwischen die Finger seiner linken Hand. Da war es wieder, dieses Kribbeln, das sich von seinen Fingern durch seinen ganzen Körper zog wie eine Welle.
„Ich glaube ich verstehe dich nicht.“, gab er zu.
„Was glaubst du wie viele Kerle mich jeden Abend fragen ob ich nicht Feuer hätte?“, fragte sie ihn mit ruhiger Stimme, während sie sich an seinen Arm schmiegte. Er verstand nicht wie sie so ruhig bleiben konnte, die meisten Frauen die er kannte, würden sich betrogen fühlen und ein unglaubliches Gezeter anfangen.
„Weiß nicht. Drei?“
„Wieso gerade drei?“
„Ich weiß nicht, wenn ich fünf gesagt hätte, hättest du mich doch bestimmt gefragt wie ich gerade auf fünf komme, oder? Also sage ich drei, weil ich nämlich nicht weiß wie viele es sind.“
Jetzt aber, Paul wartete nur darauf, dass sie explodierte, und völlig außer sich anfing zu schreien. Aber er täuschte sich wieder. Er konnte es nicht glauben, dass diese Frau nicht nur unglaublich gut aussah, sondern egal was er sagte nichts missverstand.
„Glaubst du, dass ich so leicht zu durchschauen bin?“
„Aber das habe ich doch nicht gesagt.“
„Nein, das hast du nicht. Aber vielleicht und nur vielleicht hast du es so gemeint.“
Sie drückte ihm den Joint in die Hand und er nahm einen letzten tiefen Zug während sie aufstand, ihre Schuhe auszog, die Jacke auf die Bank schmiss, ihren Rock löste und selbigen fallen ließ.
„Was machst du?“, fragte Paul perplex.
„Warts ab.“, stieg auf das steinerne von Säulen getragene Geländer, welches breit genug war um darauf zu sitzen, und ließ sich fallen. Sie schien die drei Meter bis zur Wasseroberfläche zu schweben. Paul stürzte zum Geländer und sah, die sie Rücklinks in den silbrigen Nadeln verschwand. Paul hörte einen Schrei. Bis er sich bewusst wurde, dass er es war der geschrienen hatte vergingen einige Sekunden die sich ewig in die Länge zu ziehen schienen.
„Hallo! Hey! Wo bist du? Komm schon, das ist nicht lustig!“
Er zog sich seine Jacke und das T-Shirt aus, schmiss die Schuhe und die Hose unter die Bank und stellte sich auf die Brüstung. Die silbrigen Nadeln tanzten im Wasser. Er konnte ihren leblos erscheinenden Körper in der Mitte des Teichs erahnen. Es schien als würden ihre langen Haare ihren Körper, wie ein Teppich, auf der Wasseroberfläche tragen. Sollte er Springen? Er konnte nicht glauben, dass er sich diese Frage ernsthaft stellte. Natürlich würde er springen. Und wenn er dabei ertrinken würde, er musste dieses Mädchen retten. Tausende Gedanken schossen durch seinen Kopf und er verdrängte sie alle, um nicht den Kopf zu verlieren.
Er sprang. Das warme Wasser umhüllte ihn und er fühlte sich seltsam geborgen, wie ein Fötus in der Fruchtblase seiner Mutter. Er vernahm einen Puls, ruhig und gleichmäßig, nicht wissend, ob er zu ihm oder zu ihr gehörte. Er durchschwamm den Teich bis zu dessen Mitte, dann endlich tauchte er auf. Er konnte sie nicht sehen. Er drehte sich nach allen Seiten um, in der Hoffnung, dass sie noch immer auf dem Wasser liegen würde. Nichts.
„Scheiße! Verdammt! Wo bist du?“ Er drehte sich zurück, in die Richtung wo er den Balkon erahnte.“ Er rieb sich das Wasser aus den Augen, um besser sehen zu können. Da saß sie in ihrer grünen Samtjacke und ihrem schwarzen Rock auf der Brüstung und strahlte ihn mit ihren smaragdgrünen Augen entgegen.
„Hey Paul! Komm schon! Was machst du denn?“
Er konnte sich nicht bewegen. Wie konnte das sein? Das saß sie als ob nichts gewesen währe. Plötzlich hatte ein Gefühl, als würde ihn irgendjemand oder irgendetwas aus dem Wasser ziehen. Drei Meter über der Wasseroberfläche schwebte er zu ihr auf die Brüstung.
„Ich bin Levke.“
Er sah in ihre grünen Augen und sein Blickfeld klarte auf. Sie hatte sich über ihn gebeugt und ihm einen Eisbeutel unter den Kopf gelegt. Erst jetzt fiel ihm auf, wie makellos ihr Gesicht war. Bis auf eine winzige Narbe am Kinn, makellos. Ihre lockigen roten Haare fielen wie ein Rahmen um dieses wunderschöne Gesicht.
„Kannst du aufstehen?“ fragte sie.
„I... Ich denke schon.“
„Dann lass uns gehen. Ich hab Feierabend.“
„Wo…Wohin?“ fragte Paul verwirrt.
„Erstmal raus, damit du etwas frische Luft bekommst.“
|