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jugin schrieb am 18.1. 2001 um 12:28:26 Uhr über

Gaja

Wir sind die Erde. Wir sind der Rhythmus von Tag und Nacht. Wir sind die Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne. Wir sind das Gewicht der Erde. Wir sind die Geschwindigkeit der Erde. Wir sind auch die Geschichte der Erde, und wir sind die Evolution, von der Bakterie bis zum Blauwal und zu den Neuronen unseres Gehirns.

Einige Jahrhunderte lang hat eine gebildete Minderheit im Abendland geglaubt, unser Planet sei eine tote Steinkugel, die sich nach mechanischen Gesetzen durch das All bewegt.

In jüngster Zeit jedoch ist diese mechanische Sicht des Universums ins Wanken geraten. Je tiefer die Naturwissenschaftler zu den kleinsten Bausteinen vorstießen, desto heftiger wurden sie auf die Komplexität des Ganzen zurückgeworfen. Die Frage nach der geheimnisvollen Kommunikation der Quanten löst sich nicht mit Blick auf die Einzelteile, sondern nur in Hinblick auf das Ganze. Die Wissenschaft kommt immer mehr zu der für sie erschreckenden Erkenntnis, daß die Natur nicht als separierbare Außenwelt objektiv zu erforschen ist. Die jüngsten Erkenntnisse in diversen Wissenschaftsbereichen deuten darauf hin, daß sich jeder Naturprozeß nur durch die aktive Kommunikation des Ganzen erklären läßt.

Als Antwort auf die Fragen der Funktion der Natur offenbart sich immer mehr ein altes, aber scheinbar fundamentales Prinzip der Natur: das Prinzip der Selbstorganisation. Selbstorganisation, auch Autopoiesis genannt, ist die Fähigkeit zur spontanen Strukturierung. In seiner reinsten Form ist dieses dynamische Prinzip in offenen, in ständigem Austausch mit ihrer Umwelt befindlichen Systemen zu finden.

Die Erde ist keine tote Steinkugel, sondern ein Lebewesen, ein einziger großer Organismus, der sich genau die Umgebung schafft, die er braucht. Das Steuerungs- und Rückkopplungssystem, das für diese Aktivitäten zuständig ist, benannte der britische Biologe James Lovelock vor gut einem Jahrzehnt, angeregt von dem Vorschlag des Literaturnobelpreisträgers William Golding, nach der griechischen Erdgottheit Gaia.

Die Gaia-Theorie behauptet, daß die Evolution des Lebens nur aus der aktiven Kooperation der Sphären, der vier Grundelemente des Erdbodens (Lithosphäre), des Wassers (Hydrosphäre), der Luft (Atmosphäre) und des Lebens (Biosphäre) erklärbar ist. Nach Lovelocks Gaia-Theorie sind die etwa vier Milliarden Lebensarten auf unserem Planeten durch Koevolution und Rückkopplung derart koordiniert, daß der gesamte Planet ein sich selbstorganisierendes System darstellt.

Was bei dem Begriff der Selbstorganisation auffällt, ist, daß hier ein Begriff in die Naturwissenschaften eingeführt wird, das Selbst, der von seinem Inhalt her völlig subjektiv ist. Wer ist dieses Selbst, das sich hier organisiert? Die Strukturen sind immer nur die Matrix, auf der, in der und durch die sich dieses Selbst organisiert. Gaia wird als eine Rahmenbedingung gesehen, aus der heraus alle Lebensformen existieren und ohne die kein Leben existieren kann. Insofern wird hier der Erde eine schöpferische Dynamik und Kreativität zugesprochen. Dies führt den Gedanken der Schöpfung ein, auf den wir je nach Denktradition unterschiedlich reagieren können. Die Gaia-Theorie rückt Schöpfer und Schöpfung zusammen und widerspricht dem traditionellen Denken der Geschiedenheit von Schöpfer und Schöpfung. Damit werden Goethe und andere pantheistische Denker erneut aktuell.

Friedrich Nietzsche schrieb: Hüten wir uns zu denken, daß die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wie vor allem Weiblichen graute dem Philosophen auch vor einer lebendigen Mutter Erde, und so forderte er, die Natur zu entgöttlichen und statt dessen das Reich des Übermenschen zu erschaffen. Kaum achtzig Jahre nach Nietzsches Tod brachte eine ganz andere Art von Übermensch eine völlig andere Botschaft mit: Erstmals sahen Astronauten die Erde von außen, als Ganzes, und sie berichteten von einem mächtigen inneren Eindruck: daß nämlich die Erde ein lebendiges Wesen sei.

Wenn Gaia existiert, kann sich der Mensch nicht länger als Herr der Natur begreifen. Er ist ein Teil der Ganzheit, deren Regeln er sich anpassen muß, wenn er nicht als Spezies verschwinden will. Die Gaia-Theorie fordert eine globale Perspektive. Entscheidend ist die Gesundheit des ganzen Planeten und nicht die einzelner Organismen.

Die Gaia-Theorie ist ein Werkzeug der Wahrnehmung, sie eröffnet eine neue, nie dagewesene Perspektive. Die Erde ist kein Zufall oder Wunder, sondern gemacht hausgemacht sozusagen.

Gaia ist weder die gütige, alles verzeihende Mutter, noch eine zarte zerbrechliche Jungfrau, die einer brutalen Menschheit hilflos ausgeliefert ist. Vielmehr ist sie streng und hart. Denen, die ihre Regeln einhalten, verschafft sie eine stets warme, angenehme Welt; unbarmherzig vernichtet sie jene, die zu weit gehen. Ihr unbewußtes Ziel ist ein Planet, der für das Leben bereit ist. Stehen die Menschen diesem Ziel im Wege, so werden sie mitleidslos eliminiert. Indem wir dies erkennen, erkennen wir die erste Regel der Selbstregulierung der Biosphäre: Alle Parasiten streben danach, zu Symbionten zu werden.

Das Ziel ist ein Planet voller Individuen, die an dem Gestalt-Bewußtsein Gaia teilhaben. Dabei wird die Individualität des Einzelnen nicht geopfert; die Gestalt existiert über und jenseits der persönlichen Sphären. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.



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