Das Ostler-Gen
SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Vor zwanzig Jahren erfüllten wir aus der DDR alle Kriterien der Unterschicht
Vor zwanzig Jahren, bei der ersten und letzten freien Wahl in der DDR - die sich gleichwohl schon fest in altbundesdeutscher Hand befand - machte die CDU Werbung mit dem Slogan »Freiheit statt Sozialismus«. Sozialismus meint seit je eine auf menschlicher Gegenseitigkeit, auf Solidarität statt auf Gewinnstreben orientierte Gesellschaft. Was für ein großer Gedanke! Was für eine große Ernüchterung! Denn eine solche Gesellschaft war soeben jämmerlich gescheitert, und man solle - um des Himmels, um der Freiheit willen - es nicht noch einmal versuchen. Das war die Botschaft.
Egoismus ist jetzt ungesund?
Pünktlich zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit entdeckt das deutsche Sachbuch nun im Chor die Solidarität wieder. Wir dürfen wählen zwischen »Der Sinn des Gebens«, »Wir! Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben«, »Wir und was uns zu Menschen macht« und der »Kunst, kein Egoist zu sein.« Selbstlose, gebende Menschen seien glücklicher als andere und lebten auch noch länger. Die Selbstlosigkeit sei überraschenderweise in uns angelegt, was aber erst eine neue Sicht auf die Ursprünge des Menschen erkennbar werden lässt. Widerspruch! Doch verschieben wir den noch einen Augenblick zugunsten der Frage: Was ist hier eigentlich passiert?
Natürlich, vor zwanzig Jahren trug die FDP noch das Gesicht des Außenministers Hans-Dietrich Genscher oder das des Grafen Lambsdorff; damals übersetzte man »liberal« noch nicht zwangsläufig mit: »Mehr brutto vom netto!« Vor zwanzig Jahren sprach auch noch keiner von der Unterschicht, dem Hauptwort nicht nur der letzten Sarrazin-Wochen.
Wie langsam wir uns an dieses Wort gewöhnen mussten! Die es zuerst in den Mund nahmen, hatten noch fast ein schlechtes Gewissen. Heute dagegen spricht man es mit einer Genugtuung aus, die von Selbstgerechtigkeit nicht zu unterscheiden ist. Aber was für ein Glück für uns Ostler! Wäre die deutsche Einheit zwanzig Jahre später gekommen, wir wären sofort identifiziert worden als das, was wir waren: die kollektive Unterschicht! Fast siebzehn Millionen ohne Kapital, mit Einkommen, die auch 1:1 gerechnet oft gerade heutigen Hartz-IV-Sätzen glichen. Und die meisten waren ohnehin bald arbeitslos. (Kollateralschaden beim Systemwechsel.) Wer übersetzen wollte, wie das spezifische Mehrheits-Outfit Ost damals auf avancierte Geschmacksnerven West wirkte, dürfte wohl von Hartz-IV-Look sprechen.
Wahrscheinlich hätte Thilo Sarrazin damals ein Buch über das spezifische Ost-Gen geschrieben. Sarrazin kommt übrigens aus Gera! Zur geistigen Ober- oder Mittelschicht gehört er wohl nicht, sonst hätte er bemerken müssen: Unterschichten reproduzieren sich nicht genetisch, Unterschichten werden gemacht. Nehmen wir das 20. Jahr der deutschen Einheit als Anlass, darüber nachzudenken: Wie entstehen Unterschichten?
Hässlichkeit ist nie natürlich
Wir, die Unterschicht, waren das vor zwanzig Jahren natürlich nur für West-Augen. Unter den Bedingungen der DDR waren wir keine. Und die Arbeiter hatten das größte Ego. Auch machte das relative Nichtshaben nicht einmal unglücklich.
Die meisten Ostler haben wohl bald typische Unterschichtserfahrungen gemacht. Ihr Kern ist die Wahrnehmung: Ich bin hier vollkommen überflüssig! Für uns war sie neu. Wir sind vorher gar nicht auf die Idee gekommen, uns selbst für überflüssig zu halten, aber auch nicht auf den Gedanken, andere für überflüssig zu halten. Der Unterschicht bleibt auf die Dauer gar nichts übrig, als sich unterschichtsgerecht zu benehmen. Wer hielte die unzähligen Bewerbungen und ebenso unzähligen Absagen aus, die abschätzigen Blicke, die einen auf den Fluren der Ämter treffen, ja diese ganze staatlich verwaltete Existenz? Mit sensibleren Nervensystemen kommt man da nicht durch. Stumpfheit ist Rettung.
Selbst Hässlichkeit liegt nicht in den Genen, sondern ist ein gesellschaftliches Produkt. In dem Maße, wie Menschen zur Unterschicht werden, beginnen sie auch so auszusehen, sich so zu benehmen - was unserem Mitgefühl harte Grenzen setzt. Ein gesellschaftlicher Schein entsteht: der Eindruck, die wären selber schuld. Und statt Mitleid empfinden wir zunehmend Ärger, dass es solche wie »diese da« überhaupt gibt. So vollzieht sich die Entsolidarisierung einer Gesellschaft.
Generation Schopenhauer
Am Montag, den 21. September, gedachten wir Arthur Schopenhauers. Der wohlhabende Kaufmannssohn aus Danzig war im Unterschied zu Thilo Sarrazin leidempfindlich. Seine finanzökonomische Grundeinsicht lautete: Das Leben ist ein Geschäft, das die Kosten nicht deckt. Anders formuliert: Wer das Leiden, die Ausweglosigkeit der Welt ungefiltert wahrnähme, verlöre sofort jeden Lebensmut. Unser vielbeschäftigtes Sein ist normalerweise ein guter Schutz davor; Depressive hingegen haben oft keine Möglichkeit, dieser Wahrnehmung auszuweichen. Das ist ihr Wettbewerbsnachteil. Schopenhauer artikulierte das Weltbild der Depression.
Wenn von Unterschicht die Rede ist, fühlt etwas in uns sich noch immer mitgemeint. Unterschichtler sind miserable Eltern, sonst gehörten sie schließlich nicht mehr zur Unterschicht? Was für eine seelische Grausamkeit. Manchmal denke ich, wir Mauergeborenen Ost sind die Generation Schopenhauer. Wir haben die »solidarische« Gesellschaft zu nah erlebt, um eine Neuauflage zu wünschen. Aber auch zu tief, um übergroßen Reichtum und Armut irgendwie normal finden zu können. Leistung muss sich wieder lohnen? Doch man braucht - das haben wir erfahren - nicht einmal wohlhabender zu sein als der Nachbar, um die eigene Leistung schätzen zu können. Dass wir solidarische Wesen sind, ist keine neue Erkenntnis. Die beiden Grundzüge des Menschen, Egoität und Solidarität, prägen sich im Lauf der Menschheitsentwicklung immer weiter aus. Und die Art und Weise, den Konflikt zwischen beiden Kräften auszutragen, gibt jeder Kulturepoche ihr unverwechselbares Gesicht. Das wusste schon das 19. Jahrhundert. Wie sehen wir aus?
Das spezifische Mehrheits-Outfit Ost dürften Geschmacksnerven West damals als Hartz-IV-Look empfunden haben
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