>Info zum Stichwort Freitod | >diskutieren | >Permalink 
Zebb schrieb am 26.5. 2002 um 21:48:04 Uhr über

Freitod

DIE AMEISE IN DER DUNKLEN TRUHE

Vor drei Tagen wurde sie noch als Larve gefüttert, heute konnte sie zum ersten Mal selbst auf Futtersuche gehen. Sie war nun gross geworden, musste nicht mehr von Arbeiterinnen gefüttert werden, sondern war als solche für sich selbst und auch für den Nachwuchs verantwortlich; musste Essensreste, Pflanzensamen, und tote Insekten einsammeln und sie den nimmersatten heranwachsenden Ameisen verfüttern.
Als Teil eines Fünfertrupps bewegte sie sich in zügigem Tempo auf das Küchenfenster zu, entgegenkommenden Artgenossinnen ausweichend und, von Zeit zu Zeit, durch die Mundöffnung, flüssige Nahrung mit ihnen austauschend.
Vor dem engen Loch im hölzernen Fensterrahmen war wie gewöhnlich Stau. In diesem Durcheinander verlor sie zwar die vier Anderen, die mit ihr losgezogen waren, doch kaum befand sie sich innen, auf der Rüst-flache, bemerkte sie etwa fünfzehn andere Ameisen, die sich an Resten auf dem Deckel eines Joghurtbechers zu schaffen machten.
Von nun an musste sie besonders vorsichtig sein, keine Erschütterung als unwichtig erachten, jedes Geräusch wahrnehmen und, so schlecht ihre Augen auch waren, die kleinsten visuellen Veränderungen be-achten. Sie suchte sich einen Platz im Kreis der Übrigen, die sich am Joghurt satt assen und danach, wenn sie genug hatten, ihren zweiten Magen, dessen Inhalt für die Larven bestimmt war, zu füllen, und be-gann mit der Aufnahme von Nahrung.
Plötzlich, mit einem lauten »Nein!«, näherte sich eine menschliche Hand, zwei Finger schnappten nach dem Alupapier, nachdem die Ameise es, aufgescheucht durch das laute Geräusch, verlassen hatte und nun zu-sehen musste, wie mit dem kostbaren Joghurt noch ungefähr ein Dutzend ihrer Schwestern im Abfluss verschwanden. Um sich nicht erneut in Gefahr zu bringen, lief sie nun sehr schnell über die weisse Lamynahtbeschichtung der Kücheneinrichtung, in der Hoffnung bald auf dunklem Untergrund zu stehen. So erreichte sie bald eine rötlich-schwarze Keramikplatte, auf der sie nahezu unsichtbar war. In Sicher-heit konnte sie sich nun beruhigen und sich wieder langsamer fort-bewegen, damit sie keinen Brotkrümel übersehen würde, doch alles, worauf sie stiess, waren Fettspritzer, die sie in keiner Weise gebrauchen konnte.
Da begann der Untergrund, auf dem sie stand, wärmer zu werden, was sie zuerst als angenehm empfand, doch immer schneller steigerte sich die Hitze bis hin zur Unerträglichkeit. Als sie endlich von dieser jetzt glühend roten Keramikplatte wegkam, konnte sie ihr hinteres linkes Bein nicht mehr bewegen, was sie zwang, alle drei Zentimeter ihren Marsch zu unterbrechen und ihre Blickrichtung neu zu bestimmen, um nicht ständig einen Kreis gegen den Uhrzeigersinn abzuschreiten.
Auf diese beschwerliche Weise war sie auf dem Weg ins Freie, in den Ameisenbau, der sie diesmal über den Küchenboden führen sollte, da sie sich vor der heissen Keramikplatte fürchtete.
Sie stieg langsam die senkrechte Schrankwand hinunter als sich eine der Türen öffnete, kurz bevor sie den Boden erreicht hätte. Sie ging über zwei Kanten hinweg und wanderte verwirrt umher. Ungewohnt kühl war dieser Untergrund, keine einzige Pheromonspur kreuzte ihren Weg.
Auf einmal, begleitet von einer dumpfen Erschütterung, wurde die Türe geschlossen. Die Ameise befand sich nun in der Dunkelheit; nicht dass sie dies störte; musste sie sich doch auch daran gewöhnen, sich in der Finsternis des Baus zu bewegen. Sofort wurde es viel kühler, doch die Tatsache, dass sie sich mitten zwischen Schokolade-Eis und Himbeeren befand, liess sie die Kälte vergessen. Erst nachdem sie bemerkt hatte, dass sie von den süssen Fruchten kein Stück abbeissen konnte und das Eis gut verschlossen war, fiel ihr auf, dass ihr dieses neue Klima gar nicht gut bekam. Von Panik ergriffen, rannte sie so schnell sie konnte, meist linksherum, im Kreis. Als sie merkte, dass dies keinen Sinn machte, begann sie den Schaber an ihrer Taille gegen die wasch-brettartige Oberfläche ihres Panzers zu reiben, um ein hoch-frequentiertes Geräusch zu erzeugen, welches ihre Kolleginnen alarmieren sollte, doch hinter der Isolationswand und der Gummi-abdichtung wurde sie nicht gehört, auch wenn gerade andere Arbeiter-innen die Türe entlang ihrer eigens gelegten Pheromonspur abschritten, ja nicht einmal beim zweiten Mal, wenn sie wieder kehrt machten, weil der Pfad plötzlich endete.
Bald schon, verliessen die Ameise langsam die Kräfte, sie hörte auf, nach Hilfe zu rufen, setzte ihre letzte Energie ein, um weiter zu leben, doch starb beim letzten Gedanken, dass sie nur ein winziger Teil eines Superorganismus war, der die Küche noch über Jahre hinweg beherrschen würde.



   User-Bewertung: +1
Versuche nicht, auf den oben stehenden Text zu antworten. Niemand kann wissen, worauf Du Dich beziehst. Schreibe lieber eine atomische Texteinheit zum Thema »Freitod«!

Dein Name:
Deine Assoziationen zu »Freitod«:
Hier nichts eingeben, sonst wird der Text nicht gespeichert:
Hier das stehen lassen, sonst wird der Text nicht gespeichert:
 Konfiguration | Web-Blaster | Statistik | »Freitod« | Hilfe | Startseite 
0.0096 (0.0015, 0.0067) sek. –– 849891422