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gats schrieb am 26.5. 2003 um 22:05:30 Uhr über

Fortschritt


Sabine Wollowski Arbeit am Fortschritt
Start Service Recherche AUTOREN SUCHEN DAS THEATER Das Uraufführungstheater auf dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens oder wie aus langen Stücken kurze werden. Eine teilnehmende Beobachtung Anja Hilling sitzt sehr aufrecht und gefasst im Proberaum des Hauses der Berliner Festspiele. Es ist Sonntagmittag, draußen knallt die Sonne. Nächste Woche hat sie ihre letzte Prüfung an der Freien Universität. Eine Woche später wird ihr erstes Bühnenstück Sterne beim Berliner Theatertreffen als szenische Lesung uraufgeführt. Heute ist die zweite Probe. »Gattung der japanischen Verskunst, bestehend aus drei Versen à 5-7-5 SilbenHeiko Senst beugt sich über den Tisch und liest aus einem Buch über Haiku vor. Er sucht einen Zugang zu Anja Hillings Stück. Er ist Schauspieler und Regisseur und richtet Sterne als szenische Lesung ein. Die Idee mit dem Haiku ist nicht aus der Luft gegriffen. Schließlich dichten auch die zwei Paare in Sterne spielerisch in dieser Versform. Aber die Schauspieler können nicht viel anfangen mit den theoretischen Aussagen aus dem Buch. Sie wollen lieber klären, wie sie diese Sätze lesen sollen. Die, wenn sie auch nicht in Versen mit 5 - 7 - 5 Silben geschrieben sind, doch sehr an Dichtkunst erinnern. Sterne erzählt die Geschichte von zwei jugendlichen Pärchen, die sich nach dem Tod der gemeinsamen Freundin Susann immer wieder unerwartet neu formieren, oft in Sätzen, die nur aus zwei, drei Worten bestehen. Anton: Wo ist Kalle? Jana: Was weiß ich. Vor´m Fernseher. Auf´m Klo. Anton: Scheißt ´nen Stern vielleicht. Den letzten. Jana: Nein. Der ist bei den Bullen. Anton: Wer. Jana: Der Stern. Anton: Kalle hat - Jana: Den Stern geopfert. Den letzten. Anton: Hat er nicht. Jana: Aus moralischer Berufung. Anton: Hat er nicht. Jana: Hat er doch. Anton: Kalle hat - Jana: Klar hat er. Der Gute. Immer ganz nah an der Wahrheit. Anton: Ich bring ihn um. Jana: Den auch. Anton: Halts Maul. Wie soll man das lesen? Wie vollständige, abgeschlossene Sätze? Mit korrekt betonten Satzzeichen? Fragende Blicke der Schauspieler in Richtung Autorin. Die schweigt. Also lässt Heiko Senst die Schauspieler erst einmal den ganzen Text lesen, macht sich Notizen und ist zufrieden mit seinem Einfall. Er hat die Regieanweisungen im Manuskript der Rolle Susanns hinzu gefügt. Susann ist in der Eingangsszene im Freien noch dabei und schluckt wie Jana und Anton einen Stern, eine bewusstseinserweiternde Droge in Sternform auf Papier gedruckt. Ihr Freund Anton will sie endlich richtig küssen und zwingt ihr seine Sehnsucht nach körperlicher Nähe auf. Da flüchtet Susann auf einen Apfelbaum und kommt nicht lebend herunter. Eigentlich endet die Rolle von Susann nach dieser Szene. Durch die Änderung ist sie als Kommentatorin aus dem Jenseits im ganzen Stück präsent. Anja Hilling hat den Einfall gleich ins Manuskript geschrieben. Sie findet, dass Susanns fortgeführte Gegenwart gut zur Rolle passt. Nach ihrem Tod wird sie zur Projektionsfläche ihrer Freunde, die sich gegenseitig die Schuld an ihrem Tod geben und um ihre Gunst buhlen, obwohl sie gar nicht mehr lebt. Am Ende zerbricht die Clique an Konkurrenz, heimlich eingegangenen Verbindungen und unentschlossenen Experimenten. Anja Hilling hätte den Vorschlag auch ablehnen können. »Im Mittelpunkt steht der Autor«, erklärt Harald Siebler, Gründungsmitglied und Leiter des Uraufführungstheaters (UAT) das Prinzip. Zum ersten Mal funktioniert der Stückemarkt des Berliner Theatertreffens nach den Prinzipien des UATs. Gegründet wurde das UAT 1998 von deutschen Theatermachern, die nicht länger neidisch auf britische Erfolgsautoren wie Sarah Kane und Mark Ravenhill schielen, sondern lieber deutsche Nachwuchsautoren mit dem gleichen Konzept fördern wollten. Dazu gehört, dass den unerfahrenen Autoren gestandene Theaterleute an die Seite gestellt werden, die nicht darauf aus sind, sich mit eigenen Einfällen auf Kosten des Autors zu profilieren. Also: keine Änderung und keine Kürzung ohne das Einverständnis des Autors. Stattdessen die Chance, durch Gespräche mit dem Regisseur und einem Mentor die Stärken und Schwächen des Stücks zu diskutieren. Und vor allem die Möglichkeit, in den Proben mit den Schauspielern mit anzusehen, an welchen Stellen der Text nicht funktioniert und wo es Längen gibt. Überzeugt zu werden, ist besser für das Selbstbewusstsein von Jungautoren, als ungefragt gekürzt zu werden. Dieser Gedanke drängt sich zumindest bei der »Übungsprobe« mit Ulf Schmidt auf, einem weiteren der vier deutschen Autoren, die in diesem Jahr ausgewählt wurden. Der promovierte Theaterwissenschaftler hat die minimalistische Geschichte eines Paares auf dem Bodensatz der Gesellschaft geschrieben. »Er« säuft nur noch und zieht sich auf seine einzige Freiheit, die Totalverweigerung, zurück, während »sie« bedingt handlungs- und liebeswillig ist. Als er schließlich überraschend aktiv wird und mit den angesammelten Flaschen auf Passanten zielt, erntet er nicht nur die Bewunderung seiner Gefährtin, sondern leitet auch die entscheidende Wende ein. Seine Flaschen haben nämlich zwei Arbeitende getroffen, deren frei gewordene Stellen nun den beiden Langzeitarbeitslosen angeboten werden. Er bekommt einen Posten als Bankdirektor, sie als Briefträgerin. Bei der Probe in der Tischlerei des Deutschen Theaters herrscht eine deutlich bestimmtere Atmosphäre als im Team um Heiko Senst. Das mag an den vielen Jahren Regieerfahrung von Harald Siebler liegen oder an den sehr konkreten Rollenvorstellungen der Schauspieler. Dem Autor Ulf Schmidt bereitet es jedenfalls sichtlich Freude, seinen Text von Profis gesprochen zu hören. Auch Anja Hilling nennt als wesentlichen Gewinn des Stückemarktes, die eigene Arbeit in den Händen von Profis zu erleben. Zu sehen, wie genau über jeden Satz nachgedacht wird, welches Gewicht selbst den Satzzeichen beigemessen wird, spornt dazu an, das eigene Schreiben noch ernsthafter zu betreiben. Und noch mehr auf Knappheit bedacht zu sein. Diese Erfahrung macht auch Ulf Schmidt »life« während der Probe. Schon vorher hat man sich auf einige Kürzungen geeinigt. Zu oft wiederholt der Text die ewig gleiche Leier des schimpfwütigen Paares. Auch in der Schlussphase, die heute geprobt wird, gibt es noch einige Passagen, die das Stück nicht wirklich voranbringen. Ulf Schmidt spürt das Missbehagen der Schauspieler bei gar zu deutlichen Textstellen genau. Zwar sprechen sie ihre Meinung kaum offen aus, aber ihre Mimik lässt keinen Zweifel aufkommen. Ohne verletzte Eitelkeit nimmt der Autor die Bedenken auf, und macht sich fast einen Sport daraus zu zeigen, dass er versteht und einsichtig ist. Und so gerät er in eine regelrechte Kürzungseuphorie, beginnt noch während der Lesung seitenweise Text zu streichen, nimmt Wiederholungen raus, verzichtet auf gar zu deutliche Worte, die das Aufkommen von Spannung verhindern. Die Belohnung: dankbare Schauspieler und Lob vom Regisseur. Glücklich verspricht Ulf Schmidt, bis zur nächsten Probe alle Änderungen in eine neue Fassung zu übertragen. Was auf den ersten Blick zu spontan und oder gar willkürlich wirkt, entspricht dem Konzept der Werkstatt. Schließlich soll der Stückemarkt keine fertige Inszenierung oder einen aufpolierten Text präsentieren, sondern stellt nach der Vorstellung von Harald Siebler einfach ein Podium dar für den Stand, den die Arbeit am Text zu dem Zeitpunkt erreicht hat. Der Erfolg der vergangenen Jahre gibt dem Konzept recht: Mindestens 50 Prozent der vorgestellten Autoren sind von großen und kleinen Theaterverlagen unter Vertrag genommen worden. Der Hunger nach guten neuen Stücken ist groß. Aber keiner will Geld in die Autorenförderung investieren. Auch das UAT funktioniert seit neun Monaten nur, weil Harald Siebler so überzeugt ist, dass er lieber Schulden macht als aufzugeben. Bald werden wieder die Gelder aus dem Hauptstadtkulturfonds verteilt. Vielleicht überzeugt ja die Zusammenarbeit mit dem Theatertreffen die Geldgeber. Der letzte Abend des Stückemarktes ist der Abend der Preisverleihung und der Bekanntgabe, welches der deutschen Stücke zum Mülheimer Theatertreffen eingeladen wird. Die Stühle im oberen Foyer des Hauses der Berliner Festspiele sind restlos besetzt. Die Spannung steigt. Nach Anja Hillings Sterne wird erst noch Um die Wurst des Belgiers Jean-Marie Piemme gelesen. Eine weitere Neuerung im diesjährigen Stückemarkt: auch zwei in Deutschland noch nicht etablierte ausländische Autoren wurden vorgestellt. Piemmes Stück ist eine sarkastische Komödie um Fleischer, Fleischeslust und bedrohte Außenseiter der Gesellschaft. Auch hier sind die Paarkonstellationen vielfältig miteinander verknüpft. Aber die Figuren sind zu stereotyp, um Interesse zu erwecken, und zu wenig übertrieben, um in der Länge zu erheitern. Dass Piemmes Stück so lähmend lang wirkt, daran ist vielleicht aber auch Hillings Sterne schuld. Die zugleich pointierten und schillernd zweideutigen Dialoge werden im Vergleich noch deutlicher als besondere Qualität erkennbar. Bis zur Lesung vor dem Publikum ist es den vier jungen Schauspielern gelungen, Hillings Minisätze als Angebot an Nuancenreichtum aufzufassen. Zwar sind sie sichtlich nervös und haben manches in der Probe besser gelesen. Aber insbesondere Marlene Maier-Dunker gelingt es, die Susann als geheimes Zentrum der Paarverflechtungen traumwandlerisch-verführerisch zu sprechen. Schließlich die Sieger. Statt einem gewinnen gleich zwei Stücke den Preis, Hillings Sterne und Kuala Lumpur von David Lindemann. Auch wenn sie dann statt 5.000 nur 2.500 Euro bekommt - für Anja Hilling, die ihr Geld bisher mit Cocktailmixen verdient, ist das mit Sicherheit ein willkommener Geldsegen. Ein bisschen paradox ist es aber schon, dass nicht Sterne, sondern das zweite Preisstück Kuala Lumpur mit nach Mülheim geht. An Kuala Lumpur gebe es noch mehr zu arbeiten, lautet die Begründung der Jury. Aber Anja Hilling hat einen anderen Trumpf in der Hand. Jens Hillje, Dramaturg an der Berliner Schaubühne und ihr Mentor beim Stückemarkt, schickt sie nach London zu einem internationalen Sommerseminar für Junge Autoren des Royal Court Theatre. So schließt sich der Kreis. Denn mit seiner intensiven Autorenförderung ist das Royal Court Theatre eines der Vorbilder des UATs.
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