Die Flucht
Die kleine Tür im großen Tor der Scheune schlug knarrend zu, und Klein-Thomas blieb erst mal stehen, damit sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Ein empörter Schluchzer rang sich aus seiner Kehle.
Tante Amalie hatte ihn wieder mal zu Unrecht bestraft. Leise schimpfend kletterte er die Leiter zur Tenne hoch, wo im hintersten Eck sein Versteck lag, mit all den Schätzen, die sich in seinem langen sechsjährigen Leben angesammelt hatten. Aus seiner Hosentasche zog er ein Stück Speck hervor und biss hinein, um seinen morgendlichen Haferbrei etwas zu ergänzen.
Die Sommersprossen unter seinem Rotschopf begannen eine kleine Wanderung, als er die Stirn kraus zog, um darüber nachzudenken, was er denn nun schon wieder falsch gemacht hatte. Er wollte der Tante doch bloß helfen. Das die Ziege sich nicht von ihm melken lassen wollte, war doch nicht seine Schuld. Noch weniger konnte er dafür, daß die Tante ausgerechnet vor der Stalltür stand, als die Ziege mit gesenkten Kopf losstürmte und Tante Amalie umrannte.
Seiner Mutter wäre das bestimmt nicht passiert. Sie wäre einfach zur Seite gesprungen und hätte gelacht. Tante Amalie hatte er noch nie hüpfen sehen. Ob es daran lag, daß sie so dick war? Wieder begannen seine Sommersprossen eine Wanderung, als er an seine Mutter dachte. Sie war immer fröhlich, bis sie eines Tages immer stiller wurde, um dann in den Himmel zu gehen, wie ihm alle glaubhaft versicherten. Ob aber seine Mutter gewollt hat, daß er nun bei seiner ewig missgelaunten Tante leben sollte?
Klein-Thomas beschloss, seinen Großvater um Rat zu fragen. Er seufzte zwar in Gedanken an den weiten Weg, den er nur von Autofahrten her kannte, doch er war fest entschlossen.
»Thomas, wo steckst Du Lausbub schon wieder?«, gellte eine schrille Stimme über den Hof.
»Komm, Mittagessen!«
Thomas marschierte wortlos ins Haus, wusch sich sogar ohne Aufforderung die Hände und schlürfte ebenso wortlos seine Suppe, während Tante Amalie ihn mit unruhigen Blicken betrachtete. Sie fragte sich, ob da am Tisch ein in sich gekehrter Sünder saß, oder ob Thomas schon wieder einen Streich ausheckte.
Nachmittags wurde es der lieben Tante Amalie immer unheimlicher. Niemand ärgerte das Federvieh, der Hofhund lag träge in der Sonne, statt wie sonst, zum Ärger der Tante, mit dem Jungen herum zu tollen. Der Gedanke, dass Thomas ganz plötzlich ein artiger Bub geworden sei, hatte sogar für Tante Amalie etwas Beklemmendes an sich.
Zum Abendbrot erschien Klein-Thomas wieder mit gewaschenen Händen, aß ohne zu schmatzen, wünschte artig eine »Gute Nacht« und ging ohne Aufforderung ins Bett. Tante Amalie verbrachte eine schlaflose Nacht und schlummerte erst kurz vor dem ersten Hahnenschrei ein.
Das war genau der Zeitpunkt, zu dem sich Klein-Thomas in die Scheune schlich, sein Säckchen über die Schulter nahm und Großvaters Krückstock in die Hand. Den Krückstock hatte Großvater ihm geschenkt, wegen der vielen aufgenagelten Andenken - Schildchen. Großvater war schon viel gewandert, und so nahm Thomas seinen Weg auch nicht so tragisch.
Bald wanderte er, beseelt vom Gefühl der Freiheit, auf der Landstraße dahin. Nur gelegentlich wurde die morgendliche Stille durch die Vorbeifahrt eines Autos unterbrochen. Es war Franz, mit seinem Milchauto, der plötzlich neben ihm hielt.
»Thomas, wo willst Du denn hin?«
»Unsere Ziege ist ausgerissen, die muss ich suchen.« Diese Ausrede hatte er sich schon vorher zurechtgelegt.
Doch der Franz sagte ganz ernst und energisch:
»Du gehst jetzt wieder nach Hause und wartest, bis ich aus der Stadt zurückkomme, dann suchen wir gemeinsam eure Ziege.«
Und er wartete auch noch, bis der Kleine sich wirklich wieder umdrehte und Richtung Heimatdorf lief.
Während Franz beruhigt weiterfuhr, schlug sich Klein-Thomas seitwärts in die Büsche, denn er hatte nicht bedacht, dass alle Leute aus dem Dorf ihn kannten.
Was für eine herrliche Welt war es doch, abseits der Autostraße zu laufen! Überall war ein geheimnisvolles Rascheln und Raunen, so als flüstere die Natur vor sich hin.
Gegen Mittag wich er lärmenden Spaziergängern aus und aß von seinem Proviant, den er danach mit Sorge betrachtete, denn er hatte seinen Hunger gewaltig unterschätzt.
Bis zum Abend lief Thomas immer in Sichtweite der Autostraße, doch das Dorf, wo Großvater wohnte, erreichte er nicht. Die beginnende Dämmerung verdunkelte auch seine Welt. Er fürchtete sich vor der Nacht, und ganz andere Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
Mit einem Mal kam ihm Tante Amalie gar nicht mehr so böse vor, und Sehnsucht nach seinem weichen Bett überfiel ihn. Die Schatten der Nacht verwandelten das von der Sonne beschienene idyllische Wäldchen in eine geheimnisvolle, drohende Finsternis, und Klein-Thomas zog unter den ausladenden Ästen einer Tanne die Decke über seinen Kopf. Trotzdem fuhr er bei jedem Geräusch in die Höhe und starrte in die undurchdringliche Finsternis. Erst gegen Morgen überwand die Müdigkeit den kleinen Kerl, und so weckten ihn erst die wärmenden Strahlen der Sonne, die sich durch die dichten Äste der Tanne schmuggelten. Rings um ihn war die Natur schon längst zu lärmenden Leben erwacht. Auch das dumpfe Gedröhn auf der nahen Autostraße zeugte vom Beginn eines neuen Tages.
Mit einem Mal war ihm die Gegend vertraut. Er sah das kleine Wäldchen, in dem er mit seinem Großvater so oft spazieren gegangen war, und gleich dahinter war Haus und Garten des Großvaters.
Lange stand er am Zaun, nachdem er angekommen war, und nahm dieses Bild des Friedens in sich auf. Schüchtern stand er da, als sein Großvater aus der Haustür trat. Er sah einen Jungen, der über Nacht gereifter war.
Im Haus saß Tante Amalie und hatte seltsamer weise Tränen in den Augen, während sie lächelte.
Seine Sommersprossen begannen wieder zu wandern, inmitten zwei strahlender Kinderaugen.
Tante Amalie kann sich in Zukunft so oft über ihn ärgern, wie sie wollte, beschloss er großzügig, und damit war seine Welt wieder in Ordnung.
- E N D E
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