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SPIEGEL ONLINE schrieb am 16.4. 2019 um 18:23:06 Uhr über

Flammeninferno

Am Tag nach dem Flammeninferno starren die Pariser wortlos auf schwarze Steine, auf das ausgebrannte Dach von Nôtre-Dame, liegen auf der benachbarten Île St. Louis noch immer über Hunderte Meter Feuerwehrschläuche auf dem Boden. Die Menschen weinen nicht mehr, aber sie reden auch nicht viel an diesem sehr grauen, sehr traurigen Dienstag.

Der Europawahlkampf ist seit dem Brand ausgesetzt, die konservativen Republikaner sagten noch in der Nacht ein geplantes großes Meeting in Nîmes ab. Nathalie Loiseau, die Spitzenkandidatin der Regierungspartei »La République en Marche«, annullierte am Morgen alle anstehenden Wahlkampftermine. Selbst der sonst so polternde Linke und ehemalige Marxist Jean-Luc Mélenchon forderte eine 24-stündige politische Pause: »Dieses Gebäude ist wie ein Familienmitglied für uns, momentan sind wir alle in Trauer

Die Zeit steht nun still, wie nach einem Terroranschlag - die Pariser kennen das, und doch ist diesmal alles anders.

Denn es gibt bisher keine Schuldigen für den Brand, die Pariser Staatsanwaltschaft hat den Terrorverdacht früh weitgehend ausgeschlossen. Die Ermittlungen lassen sich eher schwierig an und werden aller Voraussicht nach lange dauern. Es gibt diesmal auch keine Opfer, deren Namen und Biografien am Tag danach in den Zeitungen ausgebreitet werden, sieht man von einem verletzten Feuerwehrmann ab.

Als Nôtre-Dame brannte, zum ersten Mal seit fast 900 Jahren, wurden alle Franzosen Opfer - das ist das Besondere an dieser Katastrophe, die das Land in einem fragilen, verletzlichen Moment trifft: Sei Monaten spalten die Proteste der Gelbwesten-Bewegung die Nation in verschiedene Lager, kommt Frankreich nicht zur Ruhe.

Wochenlang ist Präsident EmmanuelMacron durch das Land gefahren, um in bis zu achtstündigen Mammutsitzungen mit seinen unzufriedenen Bürgern zu reden. Um zu beweisen, dass er auch zuhören kann. Dabei ging es oft um Dinge wie unvollendete Umgehungsstraßen oder eine schlechte Schulbusversorgung. Das Fazit dieser Grand Débat, dieser großen Debatte mit dem eigenen Volk, wollte er Montagabend um 20 Uhr in einer Fernsehansprache an die Nation ziehen und erste Maßnahmen verkünden. Tagelang hatte er sich minutiös darauf vorbereitet, am Sonntagabend seine engsten Berater ins Élysée bestellt, um letzte Abstimmungen vorzunehmen.

Die Rede sollte den zweiten Teil seiner Amtszeit einläuten, die Krise beenden und einen Neuanfang markieren. Erwartet wurden Steuersenkungen für Geringverdiener und Teile der Mittelschicht, eine Anhebung der Rente, aber irgendwie auch der ganz große Wurf, von dem bisher niemand aus Macrons näherem Umfeld zu sagen wusste, wie er aussehen könnte. Dann fing das Dach von Nôtre-Dame Feuer.

Der Präsident erfuhr davon um 19 Uhr, da hatte er gerade seine Rede aufgezeichnet. 40 Minuten später ließ er die Fernsehansprache absagen. Es war die richtige Entscheidung. Weitere 13 Minuten später stürzte der schmale Mittelturm von Nôtre-Dame brennend vom Dach.

Während des Präsidentschaftswahlkampfes 2017 hatte Macron dem Schriftsteller Emmanuel Carrère gesagt, er sei nicht geeignet dafür, in stillen Zeiten zu regieren. Er sei für die Stürme gemacht. Wer ihn in seiner bisherigen Amtszeit beobachtet hat, der weiß, dieser Präsident ist immer dann am besten, wenn er kämpfen muss, wenn keine Zeit für Selbstzufriedenheit bleibt. Insofern sind die Bedingungen für ihn gerade optimal.

Kaum ein anderes Bauwerk in dieser an schönen Gebäuden so reichen Stadt ist den Franzosen so nah wie der gotische Sakralbau, in dem 1805 Napoleon zum Kaiser gekrönt wurde. Nicht das Panthéon, nicht der Eiffelturm, auch nicht der Louvre. Nôtre-Dame überstand die Französische Revolution und zwei Weltkriege nahezu intakt und die Kirche wurde zum Ort großer republikanischer Momente.

Am 26. August 1944 beging Général de Gaulle hier mit einer religiösen Zeremonie die Befreiung von Paris, nach seinem Triumphzug über die Champs-Élysées. Kurz zuvor hatte er den mit der Pétain-Regierung sympathisierenden Bischof der Kathedrale absetzen lassen. 26 Jahre später fand in Nôtre-Dame die Trauerfeier für den General statt. Und im Januar 1996 weinte HelmutKohl hier um seinen Freund, den verstorbenen Staatspräsidenten François Mitterrand.

Es ist selten, dass eine Nation kollektiv um ein Bauwerk trauert - welches, so fragt man sich, wäre das zum Beispiel in Deutschland: das Brandenburger Tor, der Reichstag, die Elbphilharmonie?


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