Im 18. Jahrhundert entdeckten kleine Gruppen in kleinen Kreisen und Quadraten, dass jedes menschliche Wesen nur durch die Tatsache seiner Geburt und ohne die Notwendigkeit besondere Fähigkeiten zu besitzen, sich anzueignen oder zu entwickeln fundamentale politische Rechte besitzt, die Menschen- und Bürgerrechte, und dass diese allen gemeinsamen Rechte die einzigen Rechte aller Menschen sind. Jedes andere Recht, das sich auf angeborene oder später erworbene Eigenschaften, Fähigkeiten, Talente stützt, wurde als willkürliche Anmaßung, als frech angeeignetes Vorrecht verdammt. Dies war zunächst nur ein Lehrsatz und ein Einfall, eine Idee, einiger weniger; dann begann diese kleine Minderheit ihre Idee in der Praxis durchzusetzen und die Menschen- und Bürgerrechte tatsächlich zu beanspruchen; es waren die vornehmsten Eliten dieses Raumes und dieser Zeit. Im Bewußtsein der Massen jedoch waren jene Rechte während des ganzen 19. Jahrhunderts und auch noch in den ersten sechszig Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nur ein Ideal. Das einzelne Menschen dieser Massen zwar an ihre Fahnen hefteten, aber sie übten sich nicht in der Praxis; sie machten die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte nicht für sich geltend; ihr Leben und ihr Gefühl vom eigenen Ich blieb, ganz besonders in Deutschland, unter den demokratischen Gesetzgebungen dasselbe wie unter dem Kaiser und unter den Königen, und später, nach Hitler, wie unter Hitler. Das Volk - »der Pöbel und Abschaum«, wie Anoubis Vater dies Volk nannte - wußte, daß es souverän war, aber es glaubte nicht daran. Heute ist jenes Ideal Wirklichkeit geworden, noch nicht in allen Gesetzgebungen, die ja nur äußerliche Schemata des öffentlichen Lebens sind, aber im Herzen jedes einzelnen, auch im Herzens des Reaktionärs; das heißt selbst für denjenigen, der die demokratischen Institutionen verletzt oder gar zerstört, und die Menschen- und Bürgerrechte der anderen unter seinen Schuhen, Stiefeln und Füßen zertritt, der alle Gruppen, Kreise und Quadrate, in denen diese Rechte anerkannt werden, lächerlich macht oder lächerlich machen will. Wer diese seltsame sittliche Lage der Massen nicht erkennt, kann nichts von dem verstehen, was heute in dieser Welt geschieht. Die Souveränität des unqualifizierten Individuums, des »Fachidioten«, wie 1968 die dagegen protestierenden Jugendlichen sagten, d.h. die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte aller und eines jeden, das, was früher nur eine Idee und ein Ideal war, ist jetzt ein wesentlicher Bestandteil im Bewußtsein eines jeden Durchschnittsmenschen. Wenn aber etwas, das früher nur ein Ideal war, ein Teil der Wirklichkeit wird, hört es unerbittlich auf ein Ideal zu sein. Die große Masse, der Normalo, »der Spiessbürger, der Kleinbürger, das absolut fast nichts wissende heterosexuelle Arschloch«, wie Anoubi sagt, wenn er wütend ist, beansprucht seine, nur seine Menschen- und Bürgerrechte. D.h. die Würde und magische Höhe, die dem Ideal Macht über die Menschen gab, verwehte. Die gleichmachenden Rechte, die jene großherzigen Erfinder und Entdecker als allgemeine Bewußtseinserweiterung erkannten, sind nicht mehr Ziele und Ideale, sondern Ansprüche und unbewußte Voraussetzungen aller Lebensäußerungen der Normalos, der Massen, die stolz darauf sind, daß sie nichts Besonderes sind.
Quelle: José Ortega y Gasset: »Der Aufstand der Massen«; rowohlts deutsche enzyklopädie; Januar 1956; S. 15/16
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